Wie soll man sie nennen, die beiden Bücher, „Ahnen“ von Anne Weber und „Herkunft“ von Botho Strauss? Erzählungen? Berichte? In beiden Texten unterbrechen sich die Ich-Erzähler ständig, reflektieren die kleinen Formen, die Geschichten oder Skizzen, die sie entwerfen. Eine scharfsinnige, auch spekulative Befragung der Erzählelemente findet statt, oft mit offenem Ausgang. So kommt eine Prosa von eigenartigem Reiz zustande, in der sich Erzählung und Essayismus so durchdringen, dass sie ununterscheidbar werden. Legion sind die Bücher in der jüngeren deutschen Literatur, die sich mehr oder weniger autobiografisch mit Familie,Vergangenheit, Herkunft beschäftigen. Diese zwei riskieren mehr als die meisten und das allein schon zeichnet sie aus.
Die 51-jährige Anne Weber, aus Offenbach stammend, mit 18 Jahren als Au-Pair-Mädchen nach Paris gekommen und dort geblieben, Autorin einiger Romane, die sie deutsch und französisch schreibt, Uebersetzerin in beiden Richtungen, hat ihrem Roman mit dem doppeldeutigen Titel „Ahnen“ den Untertitel „Ein Zeitreisetagebuch“ gegeben. Sie spürt der Biografie ihres Urgrossvaters väterlicherseits nach und begibt sich dafür auf einen abenteuerlichen Trip durch Bücher, Gedanken, Räume, Städte, Landschaften. Bestens versteht sie es, den Begriff „Zeit“ anschaulich zu machen, sie verwandelt ihn in etwas Sichtbares, in einen Weg, der durch ein „Riesengebirge“ von Hindernissen führt; einen Weg, den sie und ihr Vorfahre beschreiten, ohne sich je zu begegnen.
Mit skeptischer Leidenschaft
Weber ist ihrem Thema gegenüber skeptisch eingestellt. Das Ahnen- und Vergangenheitsreich ist ein Totenreich, vergessen, verloren, nicht wirklich wiederzubeleben. Gerade diese Skepsis scheint die Autorin zu beflügeln, ja zu befeuern. In einem energiegeladenen, nervösen Stil stellt sie drängende Fragen an ihre Materie, an den Urgrossvater, einen Theologen und Humanisten, verkannten Intellektuellen, Freund Walter Benjamins, an die Zeit und die Umstände, in denen er gelebt hat. Jede Frage wirft eine neue auf, keine Antwort genügt. Als sie in den Hinterlassenschaften des Ahnen den Bericht über einen Besuch in einer Nervenheilanstalt findet und dort nachliest, dass ihr humanistischer Vorfahre angesichts der unheilbar Kranken einen Arzt fragt, warum er denn diese Menschen nicht vergifte, überkommt sie das nackte Grauen; sie denkt an ihren Grossvater, der ein überzeugter Nazi war und fragt sich, ob sie nicht als Deutsche mit einer Art Erbsünde behaftet sei. Die Ahnenforschung schlägt ins Hier und Jetzt zurück, die Zeitreise führt ins Ich und ins Existenzielle.
Glasklare Diktion
Gerade mal 96 Seiten umfasst das Buch des 70-jährigen Dramatikers, Essayisten und Erzählers Botho Strauss; es trägt den Titel „Herkunft“. Aber sie haben es wahrhaftig in sich, diese paar Seiten! Was Strauss-Kennern und –Liebhabern sofort auffallen muss: hier spricht der Autor in einer anderen als der von ihm gewohnten Sprache. Das Raunende, manchmal mythisch Anmutende, das Abgehobene und (in den schwächeren Texten) irritierend Manirierte seines Stils ist wie weggeblasen. „Herkunft“ zeichnet sich durch eine glasklare Diktion aus, wobei die Stärken des Autors - gedankliche Tiefenschärfe, rhythmisierte Satz- und Abschnittsstrukturen, überraschende Sprachbilder - beibehalten werden.
Strauss versetzt sich zurück in seine Kindheit in der rheinland-pfälzischen Provinz, er rekonstruiert das Elternhaus, findet den alten Schulweg wieder, versucht seinen Vater festzuhalten, einen skurrilen Pharmazeuten und Erfinder, der im ersten Weltkrieg ein Auge verloren hat und zur Misanthropie neigt. Wie Anne Weber begegnet auch Botho Strauss seiner familiären Herkunft und Vergangenheit mit grosser Skepsis. Stärker noch als seine Kollegin reflektiert er das, was war und nicht mehr ist. Wobei nun endlich der Begriff „erinnern“ nicht mehr zu vermeiden ist. Strauss misstraut ihm zutiefst. Sich in die Kindheit zurück zu versetzen heisst für ihn, „wie vordem“, also gerade „frei von Erinnerung“ zu sein. Ein paradoxer Gedankengang. Unmöglich einzulösen von einem 70-Jährigen, der ja nicht von seinem langen Leben, seinen Erfahrungen abstrahieren kann, um sich in das Kind, das er einst war, zurückzuverwandeln. Und doch eine äusserst produktive Erzählmethode, mit der es dem Autor auf überraschende Art gelingt, in fragmentarischen Szenen das, was man „Vergegenwärtigung“ nennen möchte, zu bewerkstelligen.
Grosse Teile der Literatur beruhen auf Erinnerungen, auf echten und vor allem auf fiktiven oder fiktiv angereicherten. Und Erinnerung – man denke nur an Proust – ist ein starker Motor, geeignet, jenen Prozess in Gang zu setzen, der Geschichten, Romane generiert. Mit ihren skeptischen und luziden Befragungen des literarischen Erinnerungsvorgangs tragen Anne Weber und Botho Strauss dazu bei, im Leser das Bewusstsein für den Vorgang des Entstehens von Literatur zu schärfen.
Anne Weber: „Ahnen“, S. Fischer Verlag, 28.90 Sfr.
Botho Strauss: „Herkunft“, Hanser Verlag, 22.90 Sfr.