Ich habe bereits hier die Geschichte der Schweizer Europapolitik skizziert und begründet, warum ein Institutionelles Abkommen (InstA – „Rahmenabkommen“) im Interesse der Schweiz ist. Weiter habe ich hier gezeigt, dass die EU im letzten Jahr der Schweiz eine Verschnaufpause gewährte, dass es aber im Grunde keine Alternative zum Rahmenabkommen gibt und dass die wenigen offenen Punkte lösbar sind.
Beim Stand der Verhandlungen vor der Pandemie sind drei Problemkreise übriggeblieben:
- Lohnschutz
- Unionsbürgerrichtlinie
- Staatliche Beihilfen
Die EU wollte der Schweiz Zeit geben, sich zu positionieren und innenpolitisch das Feld zu schliessen. Sie machte aber klar, dass sie es nicht zulassen würde, dass das Thema auf die lange Bank geschoben würde. Zwei Daten waren wichtig: Die Abstimmung zur Begrenzugsinitiative und die neuen EU-Regeln für die Zulassung von Medizinalprodukten. Die EU hatte vor, im Rahmen der für Mai 2020 geplanten neuen Regeln die Schweizer Gesetzgebung nicht mehr als gleichwertig anzuerkennen. Das hätte für zusätzliche Hürden bei den Schweizer Medtechfirmen gesorgt. Nun wurde die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative auf September verschoben und wurde letztlich deutlich abgelehnt; die neuen Regeln bezüglich Medizinalprodukte wurden der Pandemie wegen um ein Jahr verschoben. Die Schweiz erhielt also neuen Spielraum.
Die Zeit ist reif
Jetzt ist aber die Zeit da, dass sich unser Land positioniert, und es wird erwartet, dass der Bundesrat am Mittwoch eine Verhandlungsstrategie verabschiedet. Was führt mich zu dieser Annahme?
Einige ehemals wichtige Persönlichkeiten melden sich wieder zu Wort und zwar durchgängig negativ:
Johann N. Schneider-Ammann kritisiert den Streitschlichtungsmechanismus. Das Schiedsgericht – so der Altbundesrat – sei ein Scheingericht, weil es auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) hören muss. Es ist richtig, dass sich das Schiedsgericht an der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes orientieren muss. Das ist aber auch in allen EU-Ländern so. Sonst würde der gemeinsame Wirtschaftsraum auseinanderbrechen. Setzt aber die Schweiz ein Urteil nicht um, dann kann das Schiedsgericht autonom prüfen, ob Gegenmassnahmen verhältnismässig sind. Heute kann die EU Gegenmassnahmen treffen wie sie will. Die Position der Schweiz wird also stärker, nicht schwächer. Warum hat der Altbundesrat seine Position nicht eingebracht, als er noch im Amt war?
Paul Aenishänslin, ein früherer Seco-Mitarbeiter und Leiter des Brüsseler Büros von Economiesuisse, behauptet in einem Gastkommentar bei den Tamedia-Zeitungen, das Rahmenabkommen solle über alle anderen bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gestellt werden. Das ist faktenwidrig: Das Rahmenabkommen gilt nur für fünf von 120 bilateralen Verträgen. Zugegeben: derjenige über die Personenfreizügigkeit gehört dazu und ist wichtig. Ausserdem sollen weitere sektorielle Abkommen, die allenfalls in Zukunft abgeschlossen werden, dem Rahmenabkommen unterstehen. Zu solchen Verträgen kann die Schweiz aber dann immer noch nein sagen. Aenishänslin bezieht sich auch auf den Passus im InstA, wo vereinbart wird, dass sechs Monate nach dessen Inkrafttreten Verhandlungen über die Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 aufgenommen werden und dass die Absicht besteht, dieses der Logik des InstA zu unterstellen. Aenishänslin findet dies gefährlich und folgert messerscharf, dass die Schweiz mit dem Rahmenabkommen Gefahr läuft, ohne Freihandelsabkommen dazustehen, sollte man sich in diesen Verhandlungen nicht einigen. Das ist ebenfalls knapp daneben, denn die EU könnte schon heute mir nichts dir nichts dieses Abkommen kündigen. Sollten nach Abschluss des Rahmenabkommens Verhandlungen über das Freihandelsabkommen scheitern, hat die EU eine viel kleinere Drohkulisse. Sie kann – siehe oben – zwar Gegenmassnahmen ergreifen, diese müssen aber verhältnismässig sein. Heute müssen sie das nicht. Und die Verhältnismässigkeit beurteilt das unabhängige Schiedsgericht autonom, ohne den EuGH anzurufen.
Alt-Nationalrat Rudolf H. Strahm, den ich sehr schätze, fordert, das ganze Freizügigkeitsabkommen aus dem Rahmenabkommen auszunehmen und zusätzlich den Streitschlichtungsmechanismus so abzuändern, dass dem EuGH keine Rolle mehr zukommt, und das Abkommen sonst scheitern zu lassen. Er schiebt die Rolle des Bösewichts dem süddeutschen EU-Abgeordneten Andreas Schwab zu, der – so Strahm – die EU dazu gebracht hat, die flankierenden Massnahmen (Stichwort Lohnschutz) durch das Rahmenabkommen aufzuweichen.
Diese helvetische Kakophonie zeigt, dass tatsächlich etwas im Busch ist und es wohl demnächst vorwärts geht.
Die EU macht den ersten Zug – und ist überraschend kompromissbereit
Nach der Ablehnung der Begrenzungsinitiative macht die EU nun den ersten Zug. Sie signalisiert Entgegenkommen bei den drei offenen Problemkreisen (siehe oben). Der neue EU-Botschafter in Bern, der Grieche Petros Mavromichalis, sagt es im „Bund“ klar: „Die EU ist sehr wohl bereit zu einem Schritt – wenn der Bundesrat endlich klar sagt, was er ganau will.“ Damit ist ein wichtiger Punkt erwähnt. Wir sprechen selten mit einer Stimme und von aussen ist meist nicht klar, was wir wollen. Und wenn wir nur sagen, was wir nicht wollen, dann führt das nicht zu Lösungen. Der Diplomat fügt dann aber auch an, dass die EU der Schweiz schon weit entgegengekommen ist. Der neue Mann in Bern sagt aber auch klar, was nicht verhandelbar ist: Der Streitschlichtungsmechanismus.
Konkret: Kommt die Schweiz mit einem Verhandlungsmandat, das die drei oben genannten Punkte abdeckt, kann eine Lösung gefunden werden; will aber unser Land das ganze Abkommen wieder aufknüpfen, dann wird es scheitern und die Delegation muss gar nicht erst nach Brüssel reisen. Mavromichalis zeigt zwar Verständnis für süddeutsche Handwerksbetriebe, die im Unterschied zu Schweizer Firmen eine hohe Kaution für Aufträge in der Schweiz hinterlegen müssen, ist aber in dieser Sache doch überraschend gesprächsbereit. Die EU will das Abkommen nicht an schwäbischen Handwerkern scheitern lassen. Der Einfluss von Schwab wird unterschätzt. Oder ist dieser gar nicht der Bösewicht, als den ihn die Gewerkschaften darstellen?
Die Schweiz ist am Zug – was macht sie?
Nun ist die Schweiz am Zug. Folgendes ist durchgesickert:
- Bundesrat Ignatio Cassis ist offenbar bei seinen Kollegen damit aufgelaufen, wiederum Staatssekretät Roberto Balzaretti mit den Nachverhandlungen zu betrauen. Eine Mehrheit möchte den Staatssekretär für Migration, Mario Gattiker, nach Brüssel schicken. Er gilt als gewiefter Verhandler und grosser Kenner der Materie. Das würde eventuell die innenpolitische Akzeptanz eines Verhandlungsergebnisses erhöhen. In vielen Kreisen gilt der talentierte Diplomat Balzaretti als „verbrannt“.
- Das Gremium scheint zusätzlich bereit zu sein, die Nachverhandlungen auf die drei oben genannten Bereiche zu begrenzen. Anträge, das ganze Abkommen wieder aufzumachen, was den Deal scheitern lassen würde, scheinen im Moment zum Glück keine Mehrheit im Bundesrat zu haben.
- Mit folgendem Vorschlag im Gepäck könnte Gattiker nach Brüssel reisen: Die Schweiz soll die Übernahme von neuem europäischem Recht im Bereich der fünf vom Rahmenabkommen betroffenen Verträge grundsätzlich akzeptieren (bei den anderen Verträgen bleibt alles beim Alten). Beim Lohnschutz und bei der Unionsbürgerrichtlinie soll der heutige Schweizer Rechtsstand garantiert werden. Das Stichwort heisst „Immunisierung“, das heisst, dass die Schweiz wegen neuer EU-Bestimmungen in diesen Bereichen ihr Recht und ihre Praxis nicht anpassen muss. Dieses Prinzip ist nicht neu: Bereits bei den jetzt gültigen Verträgen und im jetzigen Entwurf des InstA wurde zum Beispiel die 40-Tonnen-Limite auf Schweizer Strassen immunisiert und von der europäischen Rechtsentwicklung abgekoppelt. Das Gleiche soll nun mit den eingangs erwähnten Bereichen geschehen.
- Um den Lohnschutz zu sichern, sollen die flankierenden Massnahmen der Schweiz vor einer europäischen Rechtsentwicklung immunisiert werden, sodass die Lohnschutzbestimmungen nicht ausgehöhlt werden können.
- Ähnliches soll mit der Unionsbürgerrichtlinie geschehen. Diese ist zwar im Rahmenabkommen gar nicht erwähnt. Eine solche Immunisierung würde der Schweiz die Sicherheit geben, dass sie diese Richtlinie in Zukunft nicht übernehmen muss und dass der Aufenthalt in der Schweiz für EU-Bürger weiterhin an einen Erwerb gekoppelt ist.
- Bei den Staatsbeihilfen, das betrifft zum Beispiel die Kantonalbanken, dürfte das Verhandlungsmandat Ähnliches enthalten: den Wunsch, die Situation, wie sie im Freihandelsabkommen von 1972 festgeschrieben ist, von der Weiterentwicklung auszunehmen.
Ist es möglich, das Abkommen auf dieser Basis abzuändern und zu paraphieren, sollte der Bundesrat das tun. Es gibt immer nur gewisse „windows of opportunity“, Gelegenheiten, die irgendwann vorübergehen. Warum zeigt sich die EU im Moment kompromissbereit? Einerseits handelt es sich nicht um die arrogante Grossmacht, wie hierzulande oft kolportiert wird. Und andererseits schätzt Brüssel offenbar die vertragstreue Schweiz angesichts der Kapriolen Grossbritanniens.
Und dann kommt es darauf an, was die Gewerkschaften sagen. Es wird darum gehen, durch Überzeugungsarbeit eine möglichst breite Koalition zu schmieden, um das Abkommen durch die sichere Volksabstimmung zu bringen. Ist die Lösung betreffend Lohnschutz für sie befriedigend, dann dürften die Gewerkschaften mitmachen. Die SVP wird klar dagegen sein – aber sie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Das zeigt die deutliche Ablehnung der Begrenzungsinitiative. Mit einer aktiven Kommunikation von Anfang an und ohne Angst vor der SVP müsste diese Auseinandersetzung zu gewinnen und das schon tot geglaubte Rahmenabkommen zu retten sein. Damit das Verhältnis zu unserem wichtigsten Partner EU endlich auf stabilen Grundlagen beruht – die Geschichte des EWR-Neins soll sich nicht wiederholen.