Die scherzhafte Bezeichnung „Helvetistan“ für die von der Schweiz präsidierte Stimmrechtsgruppe im IWF rührt daher, dass die Namen fast aller dieser Mitglieder aus Zentralasien mit der Silbe –stan enden.
Der Ausdruck spiegelt auch den Stolz, in der grossen Welt dabei zu sein. Er übergeht, dass zur Aufstockung der Stimmrechtsquote auch noch Polen mit seinen rund 40 Millionen Einwohnern und später das anderswo wenig willkommene Serbien angeheuert wurden.
Mit der Stimmrechtsquote 2,78% liegt „Helvetistan“ auf der respektablen Position 13 unter den 24 Gruppen. Dominant sind die USA, ohne deren Zustimmung keine wichtige Entscheidung möglich ist. Washington will jetzt die Stimmrechte neu verteilen, um aufstrebende Wirtschaftsmächte besser zu integrieren und die Sitze der übervertretenen Europäer abzubauen.
(Über „Helvetistan“ hört man offiziell nur Positives. Die Publikation dieses Beitrags wurde 2004 vom Aussenministerium verhindert.)
„USA über den Tisch gezogen“
Ein Buch über alt Bundesrat Otto Stich widmet der Schweizer Gruppenführung ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Ein Mann reist um die Welt. Otto Stich und der Internationale Währungsfonds – ein diplomatisches Kabinettstück“.
Der „rote Eidgenosse“ habe seinem Land im Alleingang zwei Direktionssitze verschafft. Das Buch erklärt: „Der Finanzminister aus der kleinen Schweiz hat die Weltmacht USA über den Tisch gezogen“ und zitiert dazu einen Beobachter, laut dem „es seit vielen Jahren zum ersten Mal vorgekommen ist, dass sich die USA in den Bretton Woods Institutionen nicht durchzusetzen vermochten.“
Ein paar Lorbeeren fallen auch ab für den damaligen Schweizer Botschafter in Washington, den „agilen Monsieur Brunner“, der dem amerikanischen Aussenminister erklärte „es liege ja wohl wenig im politischen und strategischen Interesse der USA, wenn diese GUS-Staaten in der Gruppe von China oder Russland Aufnahme fänden.“
Zurückhaltender urteilt ein Synthesebericht, der im Jahr 2000 basierend auf der vom Nationalfonds finanzierten Studie über die Schweizer Aussenpolitik verfasst wurde. Hier wurde niemand über den Tisch gezogen, sondern es war „primär der glücklichen Wendung durch den zeitgleichen Beitritt einer Anzahl ehemals sozialistischer Länder und der Beharrlichkeit einzelner Vertreter der Exekutive zuzuschreiben, dass die Schweiz ihren Anspruch auf einen Sitz in den Exekutivdirektorien letztlich realisieren konnte.“
Der damals in Washington für das IWF-Dossier zuständige Schweizer Botschaftsrat bestätigt, dass die Beharrlichkeit von Otto Stich der einzige sichere Faktor gewesen sei.
Zu Hause ignorierte der Schweizer Finanzminister die Skepsis der Nationalbank, die mit ihrem Beobachtersitz im IWF zufrieden war und das Risiko eines negativen Volksentscheides vermeiden wollte.
Stich überging auch das Desinteresse der Schweizer Banken an einer internationalen Einbindung. Im Bundesrat duldete man Stichs Aktion, um sich nicht mit einem schwierigen Teampartner anlegen zu müssen. Widerspenstig verhielt sich Stichs Partei: Die Sozialdemokraten liessen sich bei der Abstimmung über den IWF-Beitritt nur mit Mühe zu Stimmfreigabe überreden.
In Washington behinderte der amerikanische Finanzminister die Aufstockung der bisher 20 Direktionssitze, weil er eine Schwächung der amerikanischen Dominanz befürchtete. Doch seine Befürchtung war gegenstandslos, da niemand gegen das durch eine Sperrminorität gesicherte Vetorecht der USA aufzubegehren wagte.
Im Kongress wurde er kritisiert, weil die Abgeordneten IWF und Weltbank auch in Zentralasien stärker in die amerikanische Aussenpolitik einspannen wollten. Die Entscheidung in einer politischen Frage lag ohnehin beim Präsidenten.
Georg Bush Senior war mit dem Umbruch in der Sowjetunion befasst und verstand sich als Architekt einer „Neuen Weltordnung“. Vorrang hatte die Beziehung zu Moskau, wo man den Reformer Michail Gorbatschew unterstützen und auf eine deutsche Wiedervereinigung festlegen wollte.
Da der russische Partner ebenso wie Saudiarabien und China einen IWF-Sitz beanspruchte, war die Aufstockung eine beschlossene Sache. Dass auch Otto Stich mit seinem Hinweis auf das finanzielle Gewicht der Schweiz berücksichtigt wurde, bleibt aber erklärungsbedürftig.
Statthalter für Washington
Entscheidend war für Washington die Anbindung der beim Zerfall der Sowjetunion heimatlos gewordenen islamischen Staaten in Zentralasien. Während Schweizer Journalisten fasziniert über die Bemühungen von Otto Stich berichteten, diskutierten Washingtons Insider über die Schachzüge von James Baker.
Der ehemalige Finanzminister Baker hatte gute Fäden zu IWF und Weltbank. Als Aussenminister war er zudem eine dominierende Figur in der vorrangig mit Weltpolitik befassten Regierung.
Während die Schweiz auf diesem Schachbrett höchstens ein Bäuerlein war, hatte die Türkei als NATO-Mitglied die Bedeutung eines Turmes. Sie bildete die Bastion gegen die jetzt zerfallende Sowjetunion. Als säkularisierter Staat hatte man an ihr aber auch ein Bollwerk gegen den Islam und damit gegen den Gottesstaat Iran, mit dem die USA unter Präsident Carter bittere Erfahrungen gemacht hatten.
Der in den USA ausgebildete Turgut Özal wurde als türkischer Regierungschef (1983 – 1989) und als türkischer Präsident (1989 – 1993) Washingtons Hoffnungsträger für eine türkische Marktwirtschaft. Baker war mit Özal befreundet und weilte in diesen Jahren öfters zu ausführlichen politischen Gesprächen in Ankara. Özal unterstützte 1991 trotz türkischem Widerstand das amerikanische Vorgehen im ersten Golfkrieg von 1991. Baker revanchierte sich, indem er Ankara zur Überwindung einer Finanzkrise kurzfristig einen Weltbankkredit von anderthalb Milliarden Dollar vermittelte.
Die Türkei, "der stärkste Staat im Westen
Besorgt reagierten die USA auf Özals Grossmachtpläne und den von ihm angestrebten Block mit den sprachverwandten Staaten der zerfallenden Sowjetunion. Ein zweiter islamischer Block im IWF war für Washington nach dem Konflikt mit Iran nicht akzeptabel. Und wegen den Ölreserven in Zentralasien wollte man hier neben Moskau und Teheran auch Ankara zurückbinden.
Özal hielt 1992 einen „Turkgipfel“ ab, der mit der „Erklärung von Ankara“ und der Schaffung einer türkischen Kooperations- und Entwicklungsagentur endete. Dies war nach seinen Worten: „Eine historische Chance, die der Türkei erlaubt, den Schrumpfungsprozess umzukehren, der mit der Abwehr der Türken vor Wien begann.“ Özals Aussenminister Kamran Inan prophezeite: „Die Türkei könnte in der Periode nach 2010 der stärkste Staat des Westens werden“.
In religiösen Kreisen galt Istanbul bereits als „Mekka aller Türken“. 1993 starb Özal im Amt nach einer erschöpfenden Werbekampagne bei den „Turkvölkern“ und nun wankte die amerikanische Bastion. 1996 kam es mit der Wahl des islamischen Regierungschefs Necmettin Erbakan zu einem Umschwung. Ankara forderte jetzt eine islamische NATO und einen islamischen Dinar.
Im Rückblick versteht man, warum James Baker sowohl den von der Türkei geforderten Sitz im IWF als auch den türkischen Block in Kleinasien verhindern wollte. Für beide Anliegen war die türkische Finanzbasis zu schwach.
Der Antrag von Otto Stich kam wie gerufen. Sein einziges Argument war die der Schweiz vom IWF zugeordnete Finanzquote. Da meldete sich ein politisch anspruchsloser aber finanzstarker Kleinstaat, der sich im Zehnerklub als guter Partner von IWF und Weltbank erwiesen hatte.
Dass die Schweizer Banken für die Anlage der verwalteten Vermögen auf den Finanzplatz New York angewiesen waren, gab den USA einen zusätzlichen Hebel und garantierte ihnen eine pflegeleichte Partnerschaft. Die Nützlichkeit von Bakers Schachzug zeigte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die World Trade Towers in New York.
Die USA unter George Bush Junior konnten Ende 2001 in den zum Schweizer Stimmblock gehörenden Ländern Usbekistan und Kirgisistan Stützpunkte einrichten und den Kampf gegen die Taliban in Afghanistan eröffnen.
Als optimale Lösung gilt „Helvetistan“ auch beim zuständigen Beamten am Swiss Desk im amerikanischen Aussenministerium. Die Schweiz übernehme als „Nischen-Spieler“ die Führung in der zentralasiatischen Stimmrechtsgruppe der Weltbank und des Währungsfonds, während die USA sich als Partner auf die „strategischen Interessen“ konzentriere.
Helvetischer Minimalismus in „Helvetistan“
„Otto Stichs Idee war genial“, sagte Kaspar Villiger, sein Nachfolger im Finanzministerium, als er 2002 in einem Interview auf die Sitze in der Exekutivdirektion von IWF und Weltbank angesprochen wurde.
Seine Ausführungen über Inhalt und Zweck blieben aber vage. Es sei für den Finanzplatz wichtig, Zugang zu Informationen und Leuten zu haben und dort auch die eigenen Interessen und eigene Expertise einzubringen. Der im Jahr 2000 auf der Basis einer Nationalfonds-Studie erstellte Synthesebericht ist allerdings skeptisch. Der Schweizer Gruppenführung fehle es an Synergie und Nachhaltigkeit. „Das Potential, die Arbeit von Weltbank und Währungsfonds ... direkt zu gestalten“, schreibt die Autorin, „wird bis anhin nur unbefriedigend genutzt.“
Die Weltbank habe schon vor 1992 Schweizer Fachkräfte zugelassen und deren Zahl sei mit der Mitgliedschaft nicht signifikant gestiegen. Trotz der Führung einer Stimmrechtsgruppe seien die Schweizer vor allem im höheren Kader der Bank und des Fonds unterrepräsentiert. Dazu komme die minimale Berücksichtigung von Schweizer Bewerbern für die internen Ausbildungsprogramme. Die Untersuchung wirft die Frage auf, ob dies auf fehlendes Interesse, mangelnde Qualifikation oder auf politische Hindernisse zurückzuführen sei.
Der ungenügenden Präsenz der Schweiz in IWF und Weltbank entspricht das minimale Engagement in „Helvetistan“, also den 5 in Zentralasien liegenden Staaten Aserbeidschan, Kirgisistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan. Die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA) hat bei Wirtschafts- und Finanzfragen Mühe, engagierte Leute zu finden, die als Pioniere zu den 1992 mit Hilfsversprechen angelockten Mitgliedern der Stimmrechtsgruppe geschickt werden könnten.
„Die Schweiz“, sagt ein leitender DEZA-Vertreter im Gespräch „kommt in Gefahr, in Zentralasien wortbrüchig zu werden“. Einziger Lichtblick ist Kirgisistan, wo man einem in Polen erprobten Mitarbeiter den Aufbau einer Käserei anvertraute. Das Unternehmen war erfolgreich und bringt jetzt Gewinn, was allerdings auch die Begierde der regionalen Mafia provozierte.
Nur eine Frage des Prestiges
In Kirgisistan zeigte sich auch ein positiver Effekt des Schweizer Einsitzes im Währungsfonds. Der erste Schweizer Exekutivdirektor im IWF, Daniel Kaeser, fungierte später als Berater in Kirgisistan, weil sein kirgisischer Mitarbeiter zu Hause Minister wurde und den Schweizer um Rat bat.
Aber dies ist leider eine Ausnahme. Schweizer Bankfachleute sind zunehmend auf die Verwaltung von Vermögen und Fluchtgeldern spezialisiert. Eine Anstellung beim IWF oder ein Einsatz in Zentralasien ist für sie ein Karriereknick. Es ist symptomatisch, dass für die Rettung des kirgisischen Käsereiprojektes ein Schweizer aus Warschau nötig war.
Von einer Ausstrahlung des Schweizer Finanzplatzes auf die Schützlinge in der IWF-Gruppe ist wenig zu spüren. Stephan Nellen war Mitarbeiter bei der Weltbank und betreute in der Schweizer Botschaft in Washington das Bretton Woods Dossier. Später verfolgte er als Botschafter in Mazedonien, wie intensiv die Holländer das zu ihrer Stimmrechtsgruppe gehörende Land betreuten. „Wenn die Schweiz nicht mehr für ihre Mitglieder tut“, sagte er im Gespräch, „so könnte das den Eindruck erwecken, als sei es ihr beim Kampf um die Sitze im Exekutivrat bloss um das Prestige gegangen.“
Diese Feststellung wie auch die Sorgen der DEZA-Führung und der Synthesebericht zur Aussenpolitik monieren alle das geringe Engagement der Schweiz. Der Bericht vermisst neben der Synergie auch die Nachhaltigkeit und fügt bei, dass sich das ehrgeizige Gruppenmitglied Polen mittelfristig schwerlich mit der Vizepräsidentschaft begnügen werde.
Warum erscheint dieser Beitrag im Journal21? Als Journalist muss ich auch unwillkommene Fakten aufdecken. Als ein Schweizer Diplomat 2004 nach einem Beitrag zum Lesebuch über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei suchte, offerierte ich einen Aufsatz über den Zusammenhang zwischen „Helvetistan“ und dem „türkischen Block“. Das Aussenministerium erhob Einspruch, weil der Artikel die Schweizer Beziehungen zu Ankara belasten könnte. Ich zog diesen zurück, um die Herausgabe des Lesebuches nicht zu blockieren. Der 2004 verhinderte Text erscheint hier gekürzt und aktualisiert.