Seine Verfasserin, Helene von Nostitz, entstammte einer alten aristokratischen Familie, war auf keine Erwerbstätigkeit angewiesen und konnte ihre materiellen und kulturellen Bedürfnisse nach Lust und Laune befriedigen. Sie bewegte sich gern und gewandt in der gehobenen Gesellschaft von Diplomaten, Schriftstellern und Künstlern. In ihrem Buch, das 1924 unter dem Titel «Aus dem alten Europa» erschien und mehrere Neuauflagen erlebte, hat sie über ihr Leben und ihre Zeit berichtet.
Abgesang auf die «Belle Epoque»
Helene von Nostitz wurde 1878 in Berlin als Tochter eines preussischen Generalmajors geboren. Ihr Grossvater war der deutsche Botschafter in Paris, Georg Herbert zu Münster, ihr Onkel war der spätere Reichspräsident Hindenburg. Sie verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Paris, heiratete einen Diplomaten, lebte in Dresden, Weimar, Leipzig, Wien und Italien. In Berlin betrieb sie einen Salon, in dem sich die mondäne Welt der «Belle Epoque» zu geistreicher Konversation und gehobener Unterhaltung traf.
Helene von Nostitz war mit Auguste Rodin befreundet; sie inspirierte Rilke und Hofmannsthal und stand mit ihnen im Briefwechsel. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs setzte der «Belle Epoque» ein brüskes Ende. «Aus dem alten Europa» ist der melancholisch eingefärbte Abgesang auf eine Zeit, von der die Autorin weiss, dass sie nie wiederkehren wird.
Was sie dazu bewog, das Buch zu schreiben, führt sie im Vorwort mit feierlicher Umständlichkeit aus: «Angesichts der schroffen Übergänge und der bunten Gegensätze unserer merkwürdigen, zerrissenen und doch in neuer Wiedergeburt bebenden Zeit entsprang mir die Notwendigkeit einer Bestätigung und des Wacherhaltens eines schon vergangenen Denkens und Stiles in seinen für mich belangvollsten Äusserungen.»
Aufzeichnungen über Rilke und Hofmannsthal
Helene von Nostitz’ Buch ist ein bunter Strauss kleiner Essays und Impressionen, die sich zu einem eindrücklichen Bild einer musisch begabten und kulturell interessierten Salondame der Jahrhundertwende fügen. Im Vordergrund stehen die Aufzeichnungen über Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal, denen die Autorin persönlich nahestand. Es sind Zeugnisse einer fast religiösen Verehrung, welche die «anmutigste und schönste Frau», wie Hofmannsthal sie nannte, den beiden Dichtern entgegenbringt, und wir Leser sind dazu eingeladen, diese Verehrung zu teilen.
Wir begleiten Helene von Nostitz auf ihren einsamen Spaziergängen mit dem an sich selbst und an der Welt leidenden Dichter Rilke. Wir sind mit dabei, wenn sie den Worten Hofmannsthals über den «Rosenkavalier» lauscht. Und wir dürfen bei den Dichterlesungen zuhören, die Gottesdiensten gleichen: «Rilke», lesen wir da, «zog langsam dunkelgraue Handschuhe aus, hob auf seine Zuhörer die milden tiefblauen Augen, die das übrige Gesicht auslöschten. Dann las er von dem ‘verlorenen Sohn’ aus ‘Malte Laurids Brigge’. Es war wieder, wie bei allen entscheidenden Äusserungen, eine Sprache, die die geheimsten Welten im eigenen Innern zum Klingen brachte.»
In Salzburg wohnt Helene von Nostitz einer Aufführung von Hofmannsthals «Jedermann» bei. Sie schreibt: «Hatten die Welt und ihre Lust, die durch den Tod zerstört werden sollten je so liebliche Farben und Töne gezeigt wie die lange Schar der Tänzer und Kinder in grünen und roten Trachten, wie Jedermanns liebliche Buhle, die er im süssem Wahn umfing ...?»
«Hier wird Österreichs Seele gespürt»
Zusammen mit Rilke sucht die Autorin Hofmannsthal in seinem Haus in Rodaun bei Wien auf und schildert diesen Besuch so: «In den sanft rosa Barockräumen leuchten schon matte Lampen und Kerzen. Hier wird Österreichs Seele gespürt und gehütet. Wir sitzen im Kreis in Hofmannsthals Schreibzimmer, und er beginnt in der suchenden Art, mit der er immer tiefer in das Wesen der Dinge eindringen möchte, indem er sie umwendet, stark beleuchtet und dann wieder in den Schatten zurücksinken lässt, uns dieses Wien, dieses Österreich darzustellen, in dem wir nun leben sollen und das er glühend liebt. Welch schillernde Vielseitigkeit offenbart dieses so schwer greifbare Gebilde unter seinen Worten.»
Salonabende in Paris und Weimar
Neben die Schilderung von Begegnungen mit Rilke und Hofmannsthal treten literarische Porträts von Persönlichkeiten, die im gesellschaftlichen und kulturellen Leben ihrer Zeit eine prominente Rolle spielten. In Paris verbrachte Helene von Nostitz «schöne Abende» im roten Salon der Gräfin Wolkenstein, genannt Mimi, «wo der Pole Radwan feurig Chopin spielte». In Weimar empfing sie die Baronin Taube, geborene Keyserling, und man philosophierte mit ihr «in jener weiten fragenden Art, die aus dem Osten stammt». In Wien verkehrte sie im Salon der Schriftstellerin Berta Zuckerkandl: «Meist fand man sie «auf ihrem langen Diwan sitzend», umgeben von jungen Malern, Dichtern und Musikern, die sich immer wohl bei ihr fühlten, «weil eine lösende, schwingende Luft dort wehte».
Auch von den zu ihrer Zeit berühmten Stars von Bühne und Konzertsaal finden sich in «Aus dem alten Europa» kurze Porträts. Helene von Nostitz bewundert die Schauspielkunst der Eleonore Duse in Ibsens «Nora»: «Die Bühne muss ihr gehorchen, wie sie dasteht in ihrem schon ergrauten Haar ...» Der russischen Ballettkunst wird in begeisterten Porträts gehuldigt.
«Immer zum Sprung bereit», schreibt sie über Nijinski, «immer vor dem Tod und vor der Liebe stehend, so bleibt er in der Erinnerung zurück. In allem das Äusserste wagend und doch vor Auflösung und Stillung der letzten Sehnsucht die Frage nach der noch kommenden Bewegung stellend.» Und das Ende eines Auftritts der Balletttänzerin Anna Pawlona beschreibt Helene von Nostitz so: «Ihr letzter Gruss blieb ein Schweben im Äther, ein letztes Winken aus unerreichbarer Höhe, ein überirdisches Lächeln. Und ich wusste, solange sie lebte, würde sich immer wieder ein Wunder durch diesen Körper offenbaren, der den Zerfall nicht kannte, als schwebte er beseligt von Stern zu Stern.»
Begegnungen mit Rodin
Immer wieder traf Helene von Nostitz mit Auguste Rodin zusammen, der eine Marmorbüste von ihr schuf. Man traf sich in Paris oder im Atelier des Bildhauers in Meudon südwestlich der Hauptstadt, aber auch in Italien. In ihrem Essay über den Meister beschreibt sie ihre Empfindungen bei der Betrachtung einer seiner Skulpturen: «Ein Lichtstrahl umfloss mich, in dem ich beglückt, mit erstauntem Auge zu einem Wunder aufschaute und begriff: hier ist, was wir Leben und Liebe nennen.»
Der nostalgisch-schwermütige Ton, mit dem Helene von Nostitz von herausragenden Persönlichkeiten des kulturellen Lebens spricht, prägt auch viele andere Texte ihres Buches, etwa die Berichte von ihren Reisen. Oft erscheinen die Landschaften, die sie schildert, im Licht der untergehenden Sonne, und in den alten Gassen und Palästen fremder Städte waltet ein unergründliches Geheimnis.
Moskau und Venedig
«Es ist Abend geworden», berichtet die Reisende ahnungsvoll aus dem Moskau des Zarenreichs, «man fährt in der Glut des Sonnenuntergangs zu den Vergnügungsparks, wo die Zigeuner wehmütig spielen. Nun steigt der Mond hinter dem Kreml auf, dieser Verkörperung einer grausamen, prunkvollen Macht, und die dunklen zackigen Silhouetten seiner unzähligen Türme stehen wie die drohenden Symbole dieses zermalmenden Tyrannengeistes aufrecht in der Nacht.»
Und in einer Schilderung von Venedig lesen wir: «Am späten Abend fuhr unsere Gondel langsam wieder in die Nacht hinaus. Gerade diese Abfahrt im Schatten der grossen Paläste sehe ich noch so deutlich vor mir – wie das Boot langsam wiegend dahinzog und das Gefühl des Abschieds, des Vergangenen uns umgab, das immer diese Stadt durchzieht.»
«Dann wurde es aber bitterernst»
Von Politik ist in diesem Buch nicht die Rede. Von historischen Ereignissen wird zwar berichtet, aber sie werden als schicksalhafte Vorgänge wahrgenommen, die nicht von Menschen ausgelöst und verantwortet werden. Die Nachricht vom Kriegsausbruch 1914 erreicht Helene von Nostitz in einem Hotel an der Ostsee.
Sie schreibt: «Dann wurde es aber bitterernst. In der Halle des Kurhauses standen einige Musiker traurig und ergeben, denn für sie bedeutete das Ergreifen der Waffen das Aufgeben ihrer ganzen Existenz. Ein alter Violoncellist blieb schliesslich allein mit uns am Ostseestrand, weil er sich von seinem Instrument nicht trennen wollte. Er kannte uralte Weissagungen aus dem Mittalter, die diesen Krieg voraussahen. Lange gingen wir zusammen auf dem dunklen, einsamen Strand. Die Wolken nahmen kriegerische Gestalten an, und klagend brachen sich die Wellen.»
Ambivalente Empfindungen über den Krieg
Auf den Krieg reagiert Helene von Nostitz mit ambivalenten Empfindungen. Einerseits ist sie entsetzt über das «hasserfüllte, tierische Zerfleischen», und sie beobachtet mit spürbarem Widerwillen die Grossindustriellen, die sich im Hotel an der Ostsee mit Politikern zu Gesprächen über die «unlösbaren Probleme dieses unerklärlichen und vulkanischen Weltbrandes treffen».
Anderseits denkt sie überzeugt deutschnational und bewundert den Opfermut und die Todesbereitschaft der jungen Menschen, die in den Krieg ziehen. Bei einer Lesung aus Rilkes Werken fällt ihr ein Fähnrich mit «jugendlichem Glanz und ernstem Auge» auf, und sie schreibt: «Die Verse wuchsen über den engen Saal hinaus und schienen ihn zu grüssen. Dann zog er in die Nacht hinaus, und ist nie wiedergekommen.»
Trauerfeier für Kaiser Franz Josef
Der Tod des Kaisers Franz Joseph im November 1916 löst in Helene von Nostitz keine Reflexion über den Gang der Geschichte und die Zukunft der Monarchie aus. In ihrer Schilderung von den Beisetzungsfeierlichkeiten im Stephansdom wird der Anlass zu einem glanzvollen Fest der Vergänglichkeit, mit dem eine Epoche ihr Ende zelebriert: «Ich werde nie die Fülle der Kerzen vergessen, die ein sanftes Licht in der herrlichen Kathedrale verbreiteten. Auch sie schienen zu singen, denn die Chöre sprachen durch diese Lichtfülle und schwebten mit ihr nach oben. Über der Pyramide von Kerzen stand noch einmal das Symbol des Kaisersarges mit der Kaiserkrone. Die Priester in prächtigem Ornat verneigten sich und umkreisten ihn mit Räuchergefässen, während der Gesang immer mächtiger anschwoll.»
Was die Zukunft bringen wird, ist ungewiss und steht für die Autorin nur als düstere Vorahnung im Raum. Von Unruhen, von einer Revolution ist zwar hin und wieder, aber nur andeutungsweise, die Rede. «Im Dunklen bereiten sich grosse Streiks vor», schreibt Helene von Nostitz, «überall wühlt etwas.» Es wirkt fast zynisch, wenn sie fortfährt: «Nachmittags beim Tee liegen die etwas kranken Wiener Damen der Gesellschaft auf kostbaren Spitzenbetten, spielen mit ihrem Schmuck und fragen müde lächelnd: ‘Wann kommt der Streik?’»
Ernst und Groteske
Wie unpolitisch Helen von Nostitz ist, wird nirgends deutlicher als im Essay zu Beginn des Buches, der ihrem Grossvater, dem Fürsten Georg Herbert zu Münster gewidmet ist. Münster war zwischen 1885 und 1900 deutscher Botschafter in Paris, und die Autorin entwirft ein liebevolles Bild dieses eigenwilligen, ja skurrilen Diplomaten, dessen Lieblingsbeschäftigungen die Landwirtschaft, das Reiten und das Fischen von Forellen waren.
Über seine Tätigkeit als Diplomat werden wir nur kurz und in allgemeinen Wendungen unterrichtet. «In der Rückerinnerung», schreibt Helene von Nostitz, «steht mir seine Erscheinung so klar umrissen vor der Seele mit ihrer starken Ausstrahlung, die einen Stil schuf, der nur sein eigener war. So mischten sich Ernst und Groteske, Tragik und Komik des Lebens in buntem Kranz um ihn, und hinter allem stand seine grosse Leidenschaft für die rätselhaften Probleme und Verknotungen des Weltgeschehens, die er zu entwirren und zu leiten suchte.»
Gelöbnis für den Führer
In die letzten Jahre von Münsters Pariser Amtszeit fiel die skandalöse Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Spionage für Deutschland. Die Angelegenheit beschäftigte und polarisierte während Jahren die französische Öffentlichkeit und liess die Bedrohung erkennen, die vom Antisemitismus für Europa ausging. Der deutsche Botschafter war eine wichtige Figur in dieser Auseinandersetzung. Doch von der «Dreyfus-Affäre» findet sich in «Aus dem alten Europa» kein Wort.
Helene von Nostitz verabschiedet sich mit ihrem Buch vom alten Europa; aber in welche Richtung der Weg zu einem neuen Europa führen müsste und wie dieses neue Europa aussehen würde, sagt sie nicht. Hoffte sie, der Niedergang der schönen Welt, in der sie gelebt hatte, könnte durch eine heroische Herrscherfigur doch noch verhindert werden? Fast scheint es so; denn wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers unterschrieb sie, zusammen mit andern Schriftstellern, «ein Gelöbnis treuester Gefolgschaft» für den Führer.
Ich erinnere mich, dass ich das Buch «Aus dem alten Europa» zu Beginn meines Studiums an der Universität Zürich mit Begeisterung las. Ich gehörte damals zu einer kleinen Gruppe grosser Hofmannsthal-Verehrer. Wir konnten viele von Hofmannsthals Gedichten und ganze Passagen aus dem Dramolett «Der Tor und der Tod» auswendig und schwärmten für den Jugendstil und die Malerei von Munch und Klimt. Und natürlich dichteten wir. Kürzlich, beim Wühlen in meinen Büchern, bin ich auf einige meiner Verse von damals gestossen. Sie lauten:
«Die Pfeile, die ich abgesandt,
Sind ihrem Flug zuvor.
Mir blieb das Beben dieser Hand.
Vollbrachte nicht, verlor.»
Was ich mit diesem merkwürdigen Gedicht wohl sagen wollte? Ich weiss es nicht. Aber ich bin sicher: der Helene von Nostitz hätten meine Verse sehr gefallen.