Sinn und Bedeutung kitten den sozialen und kulturellen Zusammenhalt. Einer der Pioniere des Heimatschutzes, Ernst Rudorff, definierte in seinem Buch „Heimatschutz“ (1897) Kultur als „Schonen und Ansäen“, und in diesem Sinn waren Schutz der Natur und der Kultur immer schon eng verbunden. „Natur“ meinte eben „heimisch kultivierte Natur“, jene Umwelt, in die man hineingeboren wurde, in der man aufwuchs und vielleicht auch blieb oder in die man zurückkehrte.
Diese Natur verschwindet allerdings zusehends, vor unseren Augen. Und damit erodiert das Gefühl des Irgendwo-zuhause-seins. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund floriert gegenwärtig ein Kult des Heimatlichen. Gleichzeitig verbindet sich damit eine Abwehrhaltung. Allenthalben diese Invasion: Pflanzen-, Tier- und Völkerscharen. Das japanische Springkraut greift Platz, wo es nur kann; der Luchs wildert in den Wäldern nahe der Stadt; und in den Parks lagert seit kurzem eine neue Spezies: Flüchtlinge aus dem nahen Osten. Nichts Heimisches ist vor ihnen sicher. Angesicht solcher Entwicklungen erschallt heute schnell der Ruf nach hermetischer Abriegelung: Grenzen dicht machen!
Der Jargon der Herkunft
Nun beginnt das Dichtmachen im Kopf. Genauer gesagt, im Zugehörigkeitsdenken. Der Diskurs über Migration und Diversität – sowohl in der Natur wie in der Kultur - ist imprägniert von einem impliziten Jargon der Herkunft. Heimatschutz hält heute gern ein Wolf-im-Schafspelz-Argument im Ärmel: Wir haben nichts gegen Fremde und Ausländer, wir sind für Diversität - aber alles an seinem Ort. Einer der Vordenker der französischen Rechten, Alain de Benoist, ist ein Meister dieser verkappten Apartheid-Logik. Er spricht von einem „Pluriversum“, in dem die Kulturen in einer „weltweiten geteilten Zeitlichkeit“ koexistieren, sich aber nicht durchmischen sollten. Der Fremde darf Fremder sein, aber nur dort, wo er „hingehört“. Ironie dieser Logik ist, dass die Einwanderer und ihre Nachgeborenen in europäischen Ländern aus einer Trotzreaktion heraus sich nun erst recht so fremd verhalten, wie es sich für sie „gehört“. Sie schaffen sich gerade in ihrer Renitenz sozusagen eine Heimat.
Die Heimat und das Fremde
Wir sprechen von Heimat selten als von etwas Künftigem. Und wir vergessen, dass Heimat eine sozial- und identitätspolitische Aufgabe darstellt, also etwas, das es eigentlich immer zu erfinden gilt. Um Heimat progressiv zu verstehen, wird es nötig sein, sie in ein neues Verhältnis zum Fremden zu setzen.
Soziologen wie Hartmut Häusermann und Walter Siebel legen den Akzent auf die Stadt als Ort des Paradoxen: der ausgehaltenen Differenzen, der eingliedernden Absonderung. In diesem Sinn böte gerade die Stadt heute Ansätze zu einer neuen Heimatidee. Zunächst einmal Heimat als Raum, in dem Ansässige und Zugewanderte, Einheimische und Fremde leben und wohnen. Als Ort, wo der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden dialektisch aufgehoben ist, also durchaus noch besteht, aber nicht mehr als Antagonismus. Als Ort, wo man im Eigenen Fremdes und im Fremden Eigenes zu entdecken beginnt. Das würde aber voraussetzen, seine eigene, angestammte Lebensform bis zu einem gewissen Grad „aufbrechen“ und von aussen sehen zu können. Wie der Literaturwissenschafter Robert Pogue Harrison bemerkt, hat das englische „dwell“ für wohnen auch die Bedeutung von „aufgeben“. Wer also wohnt, „gibt“ eine einzige exklusive Sicht „von innen“ auf und komplementiert sie mit einer Sicht „von aussen“. Das drückt sich ja auch in der alten Einsicht aus, dass erst der Gang in die Fremde einen lehrt, das Eigene zu schätzen. In der Stadt ist man immer schon „in der Fremde“. Sie ist, wie man dies nennen könnte, ein Xenotop. Integration gilt hier für alle. Im Xenotop sind es nicht bloss die Eingewanderten, die mit der Aufgabe konfrontiert sind, ihre Identität zu überdenken, sondern auch die Eingesessenen.
Unter „Gleich-Gültigen“
Im Heimatbegriff drückt sich immer auch die Verbundenheit mit einer Gemeinschaft aus. Der Soziologe Ferdinand Tönnies unterscheidet in seinem Klassiker „Gemeinschaft und Gesellschaft“ drei Arten der Gemeinschaft: jene des Blutes oder die Verwandschaft; jene des Ortes oder die Nachbarschaft; jene des Geistes oder die Freundschaft. Heimat im herkömmlichen Sinn umfasst in unterscheidlichen Mischungsgraden alle diese Komponenten. Aber sie genügen heute nicht mehr. Das Gemeinschaftliche an Bewohnern von Xenotopen liegt ja paradoxerweise gerade in ihrer Nicht-Gemeinschaftlichkeit. Man ist in der Regel weder verwandt, noch benachbart, noch befreundet. Man ist sich fremd, aber nicht in einem negativen Sinn. Wir sind uns „gleich-gültig“, das heisst, wir geben uns durch diese „Gleich-Gültigkeit“ zu verstehen, dass wir selbstverständlich einen Platz in der Gesellschaft haben, ungeachtet der Herkunft.
Wir Weltflüchtigen
Ohnehin aber müsste man Heimat über das Soziale, Kulturelle, Politische hinaus neu konzipieren, sie also grundlegend anthropologisch denken: von der Art und Weise her, wie wir Menschen uns in der Welt einrichten. Das Zeitalter des Internets ist ein Zeitalter der Weltflüchtigkeit. Es befeuert eine Dynamk, die man neue Heimatlosigkeit nennen könnte. Die Welt verliert ihre Physis. Sie wird ortlos. Räumliche und soziale Beziehungen werden zunehmend entmaterialisiert, lösen sich auf in einem ätherhaften Zustand. Die Topologie des immateriellen Netzes ersetzt die Topografie des materiellen Raumes. Wir leben auf der Erde und auf Google Earth. Alles ist zuhanden auf Klickdistanz. Es bedarf keines physischen Aufwands mehr, um etwas zu erreichen oder zu erhalten. Auch zwischenmenschliche Nähe und Ferne werden in den sozialen Medien unterschiedslos in Klickdistanz gerückt. Das Schnelle, Instantane, allerdings auch Passagere unserer Kontakte schneidet aus dem zwischenmenschlichen Gewebe alles heraus, was Zeit braucht. Zurück bleibt die Signalisation aus dem Nirgendwo ins Nirgendwo. Wir werden zu Internetvaganten und – migranten. Heute preist man diese Art von loser Verbundenheit und Mobilität als neues Existenzgefühl, früher nannte man sie Vogelfreiheit und Heimatlosigkeit.
Maurice Merleau-Ponty und das „Zur-Welt-sein“
Vor einem solchen Hintergrund gewinnt an Bedeutung, was der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty als „Zur-Welt-sein“ („être au monde“) bezeichnet hat: eine Grundeinstellung des Menschen zu all dem, was ist. Wir sind gemäss Merleau-Ponty nicht einfach in die Welt gestellt, wir sind immer auch auf sie eingestellt, und zwar vor allem und zuvorderst als körperliche Wesen. In diesem Sinn ist unser Körper unsere erste Heimat. Wohl auch deshalb verbinden wir mit dem Heimatgedanken in der Regel sinnliche Einzelheiten unserer Kindheit und Jugend; dieser Bach, gesäumt von Kopfweiden, der vor unserem Haus vorbeifloss; diese steife Pelzigkeit des Teddybären; dieses Schulhaus, dessen harten Holzbänke wir drückten; diese Gerüche und dieser Lärm der Stammbeiz; dieser Geschmack der Landjägerwurst; der Klang dieses Dialektworts, diese ersten zögerlichen Küsse, die wir austauschten – wir alle kennen solche Gehversuche leiblichen Heimischwerdens in der Welt. Und in einer oft erstaunlichen Intensität der Erinnerung erhalten sie eine seelische Nabelschnur zur Heimat.
„Anywhere I lay my head, boys, well I gonna call my home“
Merleau-Ponty dachte nicht primär an Heimat, als er von diesem typisch humanen Verhältnis zur Welt sprach. Aber es bietet sich fast von selbst an als Gegenvision zu einem aus allen Halterungen gerissenen Dasein, das viele von uns fristen. Merleau-Ponty ging so weit zu sagen, dass wir Dingen einwohnen können aufgrund unseres leiblichen Zur-Welt-seins, zum Beispiel einem Kleidungsstück: „Sich an einen Hut, an ein Automobil oder einen Stock gewöhnen heisst, sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes teilnehmen zu lassen.“ In diesem Sinne liesse sich sagen, dass etwas dann heimatlich wird, wenn wir es in uns „setzen“ lassen; immer dann, wenn wir Zeit für etwas aufwenden und unsere Aufmerksamkeit darauf zu ruhen beginnt. Heimat kann eine Strassenecke oder eine Parkbank sein, eine Nische am Waldrand, ein Partner, ein Automobil, eine Bar, eine Arbeit, ein Buch, ein Musikstück, ein Ritual. „Well I said anywhere I lay my head, boys, well I gonna call my home“, singt Tom Waits.
Heimat liegt immer vor uns
Das bedeutet nicht, dass wir hier einen auf Vaganten- und Migrantentum zugeschnittenen Heimatbegriff formulieren. Es bedeutet, dass wir Heimat so konzipieren, dass sie auch für Vaganten und Migranten gilt. Also letztlich für uns alle. Auf diese Weise streifen wir ihr das Nostalgische ab und verleihen ihr einen Zug ins Utopische. Es gibt ein Wort im Deutschen, welches diesen Heimatgedanken genau ausdrückt: hiesig. Man ist „hiesig“, wenn man von hier ist. „Hiesig“ kann man aber auch sein, wenn man etwas vom Charakter eines Ortes in sich aufnimmt und „setzen“ lässt. So gesehen, hat Hiesigkeit wenig mit Ortsansässigkeit zu tun, als vielmehr mit meiner Ortsdurchlässigkeit. Hiesig werden kann auch der Fremde. Heimat in diesem Sinn ist etwas, das sich ereignet, und zwar allerorten, und vor allem: mit Menschen aus anderen Herkünften zusammen. Man teilt einen Lebensentwurf. Hiesig werden würde dann bedeuten, dass man noch einmal zur Welt kommt. Zu einer gemeinsam eingerichteten Welt. Heimat liegt immer vor uns. - Gibt es eine schönere Umschreibung für deren Utopie?