
Tim Guldimann diskutiert mit dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev und der deutsch-iranischen Journalistin und Autorin Gilda Sahebi (auf Englisch).
Brachte das Jahr 1989 die vermeintlich globale Wende hin zu westlichen Werten? Für Ivan Krastev hat das Jahr 1989 je nach Ort eine ganz unterschiedliche Bedeutung: «Ich sehe vier bis fünf verschiedene 1989. (…) Aus osteuropäischer Sicht hatten viele Menschen den Eindruck, die Geschichte hat uns betrogen. (…) Tian’anmen schien damals nur eine Fußnote der Geschichte zu sein, aber heute mit dem Aufschwung von China können wir verstehen, dass Tian’anmen vielleicht wichtiger war als der Fall der Berliner Mauer. (…) Nach einer Umfrage in Russland war das wichtigste Ereignis von 1989 der Rückzug von Sowjetrussland aus Afghanistan; das Ende des Reiches war wichtiger als das Ende des Kommunismus. Und das war der Moment, als die Zeit des radikalen Islams kam. Wir haben das nicht bemerkt, weil wir nur im Auge hatten, was in unserem Teil der Welt passiert.»
Gilda Sahebi stimmt dem zu, «weil wir die Tatsache nicht akzeptiert haben, dass wir nicht das Zentrum der Welt sind, sondern dass wir alle voneinander abhängig sind. (…) Aber wir haben immer noch die Perspektive, dass wir die einzigen Hauptfiguren dieser Welt seien, aber wir sind es nicht. (…) Es war lustig, wie die westlichen Regierungen so irritiert waren, dass der Rest der Welt nicht auf ihrer Seite war, als Russland die Ukraine überfiel. (…) Mir selbst gefällt das Bild aus englischen Kohleminen, wo Kanarienvögel in die Minen gebracht wurden, weil sie sehr sensibel sind, wenn der Sauerstoff in der Luft zurückgeht. Dann werden sie laut, um zu sagen: ‘Hei, etwas läuft hier falsch?´ Du kannst immer gewisse Menschen (…) fragen, läuft etwas falsch? Viele Menschen sind erstaunt über den Aufschwung des Populismus, wie konnte das so rasch passieren? (..) Sie hätten nur anderen Menschen vorher zuhören müssen. (…) Jegliche Art von Minderheiten, Migranten, Flüchtlingen, das sind die kleinen Vögel, die heute schon laut werden. (…) Und wir haben es seit vielen Jahren gespürt.»
Fordert der Protest der iranischen Frauen individuelle Menschenrechte ein, implizit die Werte der westlichen Aufklärung? – Sahebi: «Das ist ein altes Märchen, dass die Aufklärung und die Menschenrechte ein Produkt des Westens seien. (…) Menschen sind grundsätzlich gleich, sie wollen sicher, ernährt und geliebt sein. Und wir alle haben das. Und Frauen in allen Gesellschaften haben am meisten zu gewinnen, weil sie gewöhnlich tiefer gestellt sind bezüglich Sicherheit und der Möglichkeit, frei zu sein. (…) Deshalb sind sie an vielen Orten die Kraft hinter der Veränderung. (…) Sie spüren es, wie die erwähnten Vögel, weil sie sich um die Kinder kümmern, einkaufen gehen. Sie spüren es, wenn die Wirtschaft schlecht läuft.»
Gibt es ein Zurück zu einer regelbasierten internationalen Ordnung? – Krastev: «Regeln sind in der Sprache der Mächtigen geschrieben. Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine Machtkonstellation, die es dem Westen erlaubt hat, die Regeln zu schreiben. (…) Aber von aussen gesehen war diese Ordnung vor allem eine Heuchelei. (…) Ich glaube, Doppelmoral ist Teil von jeder Ordnung. (…) Die Mächtigen glauben, dass sie machen können, was sie wollen. Aber sie werden entdecken, dass sie das nicht tun können. (…) Mächtige Staaten wie die USA intervenieren in Afghanistan. Du kannst nicht mehr bombardieren, weil es nichts mehr zu bombardieren gibt, es gibt keine Ziele mehr, aber du kannst sie nicht mehr kontrollieren. Und plötzlich bist du gezwungen zu verhandeln. Und dann verhandelst du auch über gewisse Regeln. (…) Wir sind in einem Übergang, in dem die Menschen gezwungen sind, die Notwendigkeit von Ordnung zu entdecken, indem sie die Kosten von Unfrieden und Unordnung bezahlen müssen. (…) Nur braucht das zehn oder zwanzig Jahre von Unfrieden und Krise, bis die Menschen wieder entdecken, was gestern als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.»
Unordnung und Krise überall – was müsste man tun? – Sahebi: «Wahrheit, die Wahrheit gegen die Macht auszusprechen, das ist alles, was wir brauchen.» – Krastev: «In einem Moment wie diesem, ist Neugierde sehr wichtig und zu sagen: Vielleicht verstehe ich nicht, was gerade passiert, aber ich möchte es wirklich verstehen.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.