Mein Wohnort Awas liegt am Meer, aber ich sehe selten Dorfleute am Strand. Meistens bin ich allein mit den Hunden, und die wenigen Spaziergänger sind Touristen aus Bombay. Gehe ich auf dem Strand in nördlicher Richtung, merke ich rasch, dass ich im Nachbardorf Sasawané bin. Fischerboote schaukeln vor der Brandung, Netze liegen herum, Fische werden getrocknet. Und wenn es früh am Morgen ist, sehe ich Gestalten, die bei den Felsen im Sand kauern und ihre Notdurft verrichten.
Scharfe Zungen
‘So sind die Kolis eben’, sagen meine Leute, die aus Sasawané kommen, aber Mahratten-Bauern sind. ‘Sie sind dreckig, streitsüchtig, und sie trinken. Schaut unseren Panchayat an – er tut nichts, weil er zur Hälfte mit Kolis besetzt ist’. Da loben sie sich Awas, wo es nur Bauern gibt. Dreimal hat es den Preis der Regierung gewonnen, der Gemeinderäte auszeichnet, die nicht streiten.
Ich mag die Kolis, vor allem ihre Frauen, die Macchiwalis, die Fisch verkaufen. Sie sind laut, schlitzohrig – und herzlich. Doch der Ruf, eine scharfe Zunge zu haben, hängt an ihnen wie der Geruch einer Bouillabaisse. Auch in Bombay geht es ihnen nicht besser. Die Kolis sind die Ureinwohner der Stadt. Aber alle ihre Dörfer sind heute Slums. Nicht etwa, weil die Fischer sie ‘verslumt’ hätten. Es war die Stadtbehörde, die ihnen diesen dubiosen Ehrentitel gab, ihre Dorfentwicklung entsprechend vernachlässigte, bis am Ende wirklich zu Slums entstanden.
Nirgends ein Schiff
Die Geringschätzung der Kolis ist ein anekdotisches Symptom für ein tiefer liegendes Malaise, das auch für die Stadt, und für ganz Indien gilt: die Abwendung vom Meer. Bombay ist wegen seines Hafens zu einer Weltstadt geworden (im 19. Jahrhundert kurz sogar der grössten nach London). Doch wo erlebe ich diese Hafenstadt noch? Nirgends. Geschäftsstadt, ja, aber es sind Geschäfte, die kaum noch mit Schiffsverkehr zu tun haben, höchstens mit dessen Schmiermittel, der Finanzwirtschaft. Die Ozeanriesen, die ins Hafenbecken einfahren, peilen den Containerhafen von JNPT an, auf der Albagh-Seite der Einfahrt, ohne Berührung mit der Stadt.
Jede internationale Hafenstadt, für die das Meer Teil ihrer Identität ist, lässt es an seinem Leben teilhaben. Schaue ich von irgendeinem Punkt von Bombay aufs offene Meer hinaus, sehe ich nie ein Schiff. Nie. Und ich meine nicht schnittige Boote mit geblähten Segeln oder Dhows oder Containerkolosse. Auch keine Passagierschiffe sind zu sehen, keine Autofähren, vergiss Kreuzfahrtschiffe. Dafür sind die Strassen verstopft, und zweieinhalb Millionen Pendler quetschen sich täglich in die Vorortszüge. Nichts wäre einfacher, sinnvoller, notwendiger, als die Wasserwege rund um diesen langen schmalen Keil in Verkehrsstrassen zu verwandeln, und damit wieder zu einem Teil der Stadt.
Phantomstadt für kurze Zeit
Ich sagte, dass ich die Hafenstadt Bombay nirgendwo mehr finde. Das ist falsch. Es gibt einen Ort, seit wenigen Momaten, und er heisst ‘Eastern Freeway’. Es ist eine Hochautobahn, deren erster Abschnitt vom Norden her (wie alle anderen Verkehrsstränge) zum Flottenhafen an der Südspitze führt. Aber es ist ein Bombay, das der Pendler oder Besucher nie zu sehen bekommt: zuerst eine Raffinerie, riesige Öltanks, dann kilometerlang nichts, das heisst: Vieles – Salzpfannen, Reisfelder, Mangrovensümpfe, dann Hafengeschichte der Kolonialzeit: alte Piers, alte Schiffskräne (ist Zürich interessiert?), und Hunderte verlassener Lagerhallen.
Der schmale Keil, von dem ich sprach, ist der Länge nach in der Mitte gespalten: Auf dem Streifen entlang dem westlichen Ufer liegen die Strassen und Schienenstränge, die Bürohochäuser und Luxus-Wohnkasernen. Im Osten, gleich daneben, liegen Industrie-Archäologie und fröhliche Natur, berühmt für die vielen tausend Flamingos, die jeweils im März dort Station machen. Dann, und nur dann, öffnet sich dem Bombaywallah kurz ein Fenster, und er kann in eine ferne Phantomstadt reisen, die vor seiner Tür liegt.
Verschlafene Entwicklung
Was für Bombay gilt, trifft noch stärker auf den Landkoloss in seinem Rücken zu. Vielleicht bedeutete Indiens Abschied von der Kolonialmacht notwendig auch eine Abwendung vom Handel. Es war ja eine Handelsfirma gewesen, die das Land unterjocht hatte. Jedenfalls verschrieb sich Delhi der Autarkie, trotz einer alten maritimen Tradition, trotz einer Küstenlinie von über 6000 Kilometern. Dazu kamen die politischen Konflikte, jeder ein Streit um Land – Pakistan, Kaschmir, China. Indien entwickelte eine Land-Obsession, und eine See-Aversion.
Und damit verschlief es eine grundlegende Veränderung: Nach der Liberalisierung der Wirtschaft nahm der internationale Handel sprunghaft zu. Heute erreicht er beinahe fünfzig Prozent des Wirtschaftsprodukts. Darunter befinden sich strategische Güter wie Erdöl, ohne die Indien in ein wirtschaftliches Blackout tauchen würde.
Fehlender Wehrwille
Indien hat eine stolze Flottentradition, die auf das Jahr 1612 zurückgeht, als die ‘East India Company’ im Hafen von Surat eine Flotille ausrüstete, die der Piraterie das Handwerk legen sollte. Die Piraten gibt es immer noch – aber die indische Flotte spielt kaum eine Rolle. Und sie zeigt auch im weiteren Umfeld kaum Flagge, etwa im südchinesischen Meer, wo Peking als künftige Flottenweltmacht auftrumpft. Delhi hätte mit den zwei Inselketten der Lakkadiven und Andamanen zwei riesige natürliche Flugzeugträger an seinen beiden Flanken, aber sie liegen brach.
Wie in so vielen anderen Bereichen ging der Regierung unter Manmohan Singh der Wille ab, die strategische Sicherheit des Landes weiträumig abzudecken. Zwar erklärte er laut, Indiens ‘Security Perimeter’ umfasse den ganzen Indischen Ozean. Aber sein Verteidigunsminister Antony verbat sich jede Machtdemonstration, etwa in Form von gemeinsamen Manövern. Er blockierte die Modernisierung aller drei Waffengattungen, aus Angst vor Korruptionsaffären, und der Ausdruck ‘maritime diplomacy’ war ihm ein Greuel.
Die Mahnung des Monsum
Dies muss ausgerechnet von einem Keraler gesagt werden, dessen Herkunftsregion nichts als ein Küstenstreifen ist, wo bei Grabungen Tonscherben aus dem Athen des 4. Jhs.v.Chr. gefunden wurden. Antony hatte denselben Festlandblick, der auch die ehemals stolze Hafenstadt Bombay nur noch auf die ‘terra firma’ schielen lässt. Statt Schiffe, Fähren, Pontons, Flutzonen zum Werkzeug der Planer zu machen, behelfen sich diese mit dem Allheilmittel Beton, diesem Symbol für den Triumph des Elements Erde. Nur wenn der Monsun wieder einmal zuschlägt, die Dämme des Mithi-Flusses überflutet, die zugebauten Strassen unter Wasser stellt, schielen sie vielleicht manchmal in den Osten der Stadt, wo Mangrovensümpfe und Salzpfannen das Hochwasser … aufsaugen.
Manmohan Singhs Nachfolger Narendra Modi stammt aus Gujerat, einer Region mit einer grossen maritimen Handelstradition. Vielleicht spielte dies eine Rolle, als er für den ersten offiziellen Kontakt mit den Streitkräften – ein Novum – die Flotte wählte. Vor Wochenfrist weihte er Indiens Flugzeugträger ‘Vikramaditya’ ein. Es war kein Stapellauf, denn es ist ein umgebautes sowjetisches Kriegsschiff. Aber es war ein Akt, der aufhorchen liess. Das letzte Mal, als dies geschah, war vor sechzig Jahren gewesen, durch den Staatsgründer Jawaharlal Nehru.