Die Wahl des Präsidenten will die Regierung nicht dem Wahlvolk überlassen. Dafür ist er zu wichtig. Der Präsident ist nach uralter ägyptischer Tradion, aber auch laut der Verfassung, der Pharao, von dem alles abhängt. Deshalb werden die Präsidentschaftswahlen gesteuert, gelenkt werden. Die Parlamentswahlen sollen nun zeigen, wie gut und wie sicher die Regierung diese Wahlen steuern kann. Man will in dieser Hauptprobe Schwachpunkte aufecken, um sie kann korrigieren zu können.
Vor kurzem hat der Sprecher der Regierungspartei, Ali ad-Din Hilal, dem Fernsehsender al-Arabiya erklärt, Husni Mubarak werde erneut kandidieren. Dies ist die erste Erklärung aus berufenem Munde. Sie macht deutlich, dass Präsident Mubarak, der seit 29 Jahren Ägypten regiert, noch nicht abtreten will. Offiziell wird seine Kandidatur allerdings erst einen oder zwei Monate vor dem Wahltermin im kommenden Jahr bekannt gegeben werden.
Bis zum letzten Atemzug an der Macht
Seit Monaten wird in Kairo spekuliert, ob der 82jährige Mubarak ein weiteres, sechjähriges Mandat anstrebt. Spekuliert wird auch, wer denn - falls Mubarak doch nicht antritt - seine Nachfolge übernehmen könnte.
Nobelpreisträger, Mohamed el-Baradei, der heute pensionierte Vorsitzende der Internationalen Atombehörde, hat mitteilen lassen, er könnte sich eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen vorstellen. Dies allerdings nur, wenn die ägyptische Verfassung so abgeändert würde, dass eine echte Wahl möglich wäre.
Der Sohn Mubaraks, Gamal, wird schon geraume Zeit als möglicher Nachfolger gehandelt. Er spielt eine gewichtige Rolle in der Regierungspartei, und viele Ägypter glauben, sein Vater schule ihn für die Nachfolge.
Diese Gerüchte erhielten neue Nahrung, als der Vater den Sohn auf seinen letzten Staatsbesuch nach Washington mitnahm. Doch andere Ägypter, die glauben, Kenner des Hauses Mubarak zu sein, glauben, dass der Patriarch bis zum letzten Atemzug an der Macht bleiben werde.
Der Sohn von Mubarak - die Armee mag ihn nicht
Das Rätselraten hatte im vergangenen August an Intensität gewonnen. Damals wurden in Kairo Plakate mit dem Bild des Sohnes von Mubarak an die Hauswände geklebt. Gleichzeitig wurde ein "Volkskampagne" für Gamal Mubarak gestartet und Unterschriften gesammelt.
Bald darauf, am 2. September, erschienen weitere Plakate. Diese warben für Geheimdienstschef General Umar Soleiman. Er wurde als "verlässliche Alternative" präsentiert. Es scheint sich jedoch um einen von den Machthabern nicht beabsichtigten Zwischenfall gehandelt zu haben. Die Zeitungen erhielten die Weisung, nicht über diese Plakate zu berichten. Schon gedruckte Blätter wurden eingestampft, und die Plakate selbst verschwanden schnell wieder.
In Kairo spekuliert man, dass die Armee Gamal Mubarak wenig schätze. Gamal ist Bankfachmann. Doch Ägypten wurde seit 1952 immer von einem ehemaligen Armeeoffizier regiert, und die ägyptischen Berufsoffiziere haben sehr gewichtige Privilegien zu verteidigen. Ohne Zustimmung der Armee wird wohl niemand Präsident in Ägypten.
Die Muslimbrüder - man kann sie verbieten, aber nicht ignorieren
Die gewichtigste politische Partei in Ägypten ist keine Partei, sondern die offiziell verbotene religiöse Gemeinschaft der Muslimbrüder. Sie gibt es seit 1928. Sie sind nie an die Macht gekommen, doch sie sind so tief im Land verwurzelt, dass man sie zwar verbieten aber nicht ignorieren kann.
Die Regierung erlaubt, dass die Brüder als parteilose Kandidaten auftreten und dass einige von ihnen gewählt werden. Doch sie sorgt auch dafür, dass die Brüder im Parlament stets in der Minderheit bleiben und dass die Regierungspartei, die NDP, die Mehrheit stellt.
In der NDP (Nationale Demokratische Partei) sammeln sich die Würdenträger des Regimes - zusammen mit regierungsnahen Geschäftsleuten. Für die einen ist ein Parlamentssitz eine Frage des Prestiges, für andere eine Geschäftsgrundlage.
Wie viele Abgeordnete die Brüder durchbringen, hängt wesentlich davon ab, wie scharf die Regierung während den Wahlkampagnen gegen sie vorgeht. Auch hängt es davon ab, welche Repressalien sie anwendet.
Es gehört zur Wahlroutine, dass bekannte Muslimbrüder schon vor den Wahlen verhaftet und eingekerkert werden. Mit Glück können sie nach den Wahlen die Gefängnisse wieder verlassen. Es gehört auch zur Routine, dass die Urnen in den Quartieren, die als Hochburgen der Brüder bekannt sind, alle möglichen "Sonderbehandlungen" erfahren.
Manchmal bleiben dort auch die Wahlbüros einfach geschlossen. Oder sie schliessen verfrüht. Manchmal finden sich viele der Wahlberechtigten nicht auf den Wählerlisten. Manchmal auch sind es Polizisten, die dafür sorgen, dass nicht zu viele Wähler für die Brüder stimmen. Oder: Wahlbeobachter werden nicht zugelassen. Es kommt auch vor, dass die Urnen für eine Sonderauszählung aus den Wahllokalen entfernt werden.
Den Amerikanern das Gruseln lehren
Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahre 2005 sind relativ viele Vertreter der Bruderschaft gewählt worden: nämlich 88 von insgesamt 458 Parlamentariern. Doch viele Ägypter waren überzeugt, dies sei auf Wunsch der Regierung geschehen. Die Amerikaner hätten damals von Mubarak verlangt, sein Regime zu demokratisieren. Der Präsident habe daraufhin beschlossen, - so wurde spekuliert - den Amerikanern das Gruseln zu lehren, indem er dafür sorgte, dass die Brüder die zweitwichtigste Kraft im Parlament wurden. Am wichtigsten, mit vier Fünfteln aller Abgeordneten, blieb natürlich die Regierungspartei.
Vielleicht stimmen die Spekulationen. Jedenfalls haben die Amerikaner seither nur noch in sanften Tönen von Demokratisierung in Ägypten gesprochen.
Tatsache bleibt: Die Brüder sind die wichtigste, ja die einzige politische Kraft, die der Regierungspartei bei Wahlen gefährlich werden kann. Zwar gibt es noch andere offiziell zugelassene Parteien. Doch ihr Einfluss ist minim - ebenso ihre Vertretung im Parlament.
Die Regierung weiss, dass die Brüder grossen Einfluss haben. Seit 1981 herrscht in Ägypten der Ausnahmezustand. Dieser erlaubt es Mubarak, die Brüder im Zaum zu halten. Er kann auch Wahlergebnisse manipulieren und verfügen, dass die Brüder nicht zu mächtig werden.
Die Regierung kann, dank des Ausnahmezustandes, jedermann ohne richterliches Verfahren oder Mandat auf beliebig lange Zeit ins Gefängnis stecken. Die Zahl der politischen Gefangenen soll gegen 17 000 betragen. Die Regierung kann auch Angeklagte, die "die Sicherheit des Landes gefährden" vor Militärgerichte stellen. Diese werden dann - auf Befehl der Regierung - verurteilt oder frei gesprochen. Polizisten oder Geheimdienstleute, die sich Folterungen zu schulden kommen lassen, werden fast nie zur Rechenschaft gezogen.
Auch jetzt, vor den Wahlen im kommenden Monat, wurde schon vorgesorgt. Einige private Fernsehstationen wurden geschlossen. Schon sind zahlreiche Kaderleute der Muslimbrüder festgenommen worden. Der SMS-Verkehr wurde verstärkt kontrolliert. So soll verhindert werden, dass Wähler über Handys mobilisiert werden können. So, wie dies letztes Jahr im Iran geschah.
Verboten und geduldet
Vor jeder Wahl diskutieren die Brüder, ob sie überhaupt an den Wahlen teilnehmen sollen. Eine Minderheit spricht sich jeweils gegen eine Beteiligung aus, weil sie wissen, dass sie im Wahlkampf unterdrückt, und dass das Wahlergebnis manipuliert wird. Diese Einschätzung teilen alle.
Doch die Mehrheit hat sich immer wieder für eine Teilnahme an Wahlen ausgesprochen. Und dies, obwohl die Brüder, wie sie sagen, "mit einer auf den Rücken gebundenen Hand" in die Wahlen ziehen müssen. Würden sie aber nicht teilnehmen, würden sie sich selbst in Fleisch schneiden und sich noch mehr schaden, als ihnen die Regierung schon schadet. So würde auch die Gefahr wachsen, dass viele in den Untergrund abtauchten und terroristische Akte vorbereiteten.
Das gab es schon einmal. Präsident Sadat wurde 1981 von radikalen Islamisten ermordert - eine dissidente, gewaltsame Gruppe der Moslembrüder. Doch zur Zeit gibt es in Ägypten keine solch aktiven Zellen mehr. Die Hamas jedoch, die im Gaza-Streifen herrscht, hat Wurzeln bei den Moslembrüdern.
Auch der ägyptische Staat hat ein Interesse daran, dass die Brüder - trotz offiziellem Verbot - nicht in die Illegalität abtauchen und dort gefährlich werden.
Die halbe Duldung, die ihnen gewährt wird, soll dies verhindern. Wie weit lässt der Staat es zu, dass sich die Brüder bei den bevorstehenden Wahlen beteiligen? Welche Grenzen werden ihnen gesetzt. Welche Methoden werden gegen sie angewendet? Darauf konzentriert sich das Interesse im Vorfeld dieser Wahlen.
Beobachter erwarten, dass das "Management" von Seiten des Staates diesmal strenger ausfallen dürfte als 2005. Das würde bedeuten, dass ihre Vertretung verkleinert wird, und dass weniger als 88 Moselmbrüder ins Parlament einziehen werden. Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr muss der Staate die Zügel anziehen. Wie stark dies geschehen wird, werden die Wahlen zeigen.
Anmerkung: eine hervorragende Gesamtschau der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Ägypten gibt Adam Shatz in der London Review of Books vom 27. Mai 2010