In einem der schönsten Texte der Weltliteratur, auch einem der tiefsinnigsten, in König Salomos Predigt, steht mehrmals der Satz: «Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind.» So sprechen kann nur ein König. Salomo besass alles, und er schuf vieles, sofern wir den biblischen Berichten glauben dürfen. Unter ihm erblühte das alttestamentarische israelische Reich. Er liess Städte bauen, errichtete in Jerusalem den ersten Tempel, modernisierte die Verwaltung und das Heer, fällte salomonische Urteile, war offen gegen andere Religionen und Kulturen – aber als er auf seine Werke und auf die Mühe, die er gehabt hatte, zurückblickte, stellte er resigniert fest: «Es war alles eitel und Haschen nach Wind und kein Gewinn unter der Sonne.» Denn alle Mühe endet im Tod.
Wir einfacheren Leute lassen nicht davon ab, zu haschen. Zu haschen nach Reichtum, Erfolg, Glück, Ehre, Gott, ewiger Liebe, ewigem Leben, gleichgültig ob Hölle oder Paradies, solange es nur ewig ist. Und viele von uns haschen unentwegt nach einem Sinn des Lebens, nach einem Sinn der Welt, nach einem Gott.
An der Humboldt-Universität zu Berlin vertrat ein Professor der Philosophie in einer Vorlesung die These, dass der Mensch, ohne einen Sinn des Lebens und der Welt zu erkennen und ohne an das Dasein von etwas Göttlichem zu glauben oder es sich zu wünschen, gar nicht richtig leben könne. Ein Student meldete sich zum Widerspruch (das darf man heutzutage) und erklärte, er sei Atheist, sehe auch nicht den geringsten Sinn im Leben oder in der Welt, empfinde dies keineswegs als Mangel, habe auch kein Bedürfnis danach, aber sei trotzdem durchaus lebensfähig und glücklich. Der Dozent entgegnete: Selbst wenn ein Mensch behaupte, er glaube nicht an Gott und sehe im Leben und in der Welt keinen Sinn, benötige auch keinen, so sehne er sich – unbewusst – trotzdem danach, finde – unbewusst – einen Sinn und klammere sich – unbewusst – daran.
Ein Professor darf alles. Ein Hinweis auf das Unbewusste hilft immer, wenn man nicht weiterkommt. Der Kniff ist abgedroschen. Den gleichen Dienst erweist einem steckengebliebenen Philosophen die Zuhilfenahme Gottes. Mit ihm lassen sich die vertracktesten Rätsel lösen, wenn sie sich auch als Scheinlösungen erweisen. Scheinlösungen deshalb, weil durch diese Einschaltung Gottes zwei Kategorien des Denkens – Glaube und Wissen – miteinander verbunden werden, die unvereinbar sind. Immanuel Kant hat es in seiner «Kritik der reinen Vernunft» auf eine knappe Formel gebracht: «Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.»
Das betörende an der Philosophie besteht darin, dass man behaupten kann, was man will, auch die abstrusesten Dinge, und dass man sie mit etwas Sprachakrobatik auch gleich noch als richtig «beweisen» kann. Nehmen Sie zum Beispiel einen Satz Martin Heideggers aus seiner Schrift «Technik und die Kehre»: «Das Wesen des Gestells ist das in sich gesammelte Stellen, das seiner eigenen Wesenswahrheit mit der Vergessenheit nachstellt, welches Nachstellen sich dadurch verstellt, dass es sich in das Bestellen alles Anwesenden als den Bestand entfaltet, sich in diesem einrichtet und als dieser herrscht.»
Was macht man mit derlei Wortgeklimper? Heidegger wird als einer der grössten Philosophen des 20. Jahrhunderts gehandelt. Mag sein, dass er das war. Aber eben: Philosoph. Heidegger war ein Philosoph. Ein Denker, wie zum Beispiel Immanuel Kant es war, war Heidegger nicht. Er liess sich denn auch prompt von Hitler einnehmen und folgte ihm gedankenlos inmitten der Herde, haschend nach Blut und Boden.
Fast zwei Jahrtausende vor ihm hatte der römische Dichter und Denker Seneca diesbezügliche Verhaltensregeln postuliert: «Laufen wir nicht wie das Herdenvieh den Vorangehenden nach. Wandern wir nicht, wo die Menge eben zu gehen pflegt, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll! Nichts bringt uns in grössere Übel, als wenn wir uns nach dem Gerede der Leute richten und das für das Beste halten, das mit grossem Beifall aufgenommen wird.» Immanuel Kant setzte dies als Motto vor sein erstes Werk, das er als 22-jähriger Student schrieb.
Es überrascht mich immer von Neuem, wie die alten Denker mit den einfachsten Worten und Sätzen Richtiges und sogar Endgültiges zu sagen verstanden, während viele Heutige mit aufgeblasenem Sprachgetue kaum Nennenswertes hervorbringen.
Doch zurück zu König Salomon: Lesen Sie seine Predigt! Lesen Sie sie auch dann, wenn Sie, so wie ich, nicht an Gott glauben. Es lohnt sich. Die Predigt enthält nicht, wie Salomos Buch der Sprüche, moralische, ethische und andere gesellschaftsbezogene Anweisungen und Empfehlungen, oder nur wenige. Sie bietet einen nüchternen Blick auf die Welt, schnörkellos und in grossartige einprägsame Sätze gefasst, so wie eben die Einsicht: «Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.»
Und plötzlich pocht ein schrecklicher Gedanke an mein Hirn: Ein Pfarrer, mit dem ich mich gelegentlich zu einer Tasse Kaffee treffe und über Gott und die Welt unterhalte, sagte mir neulich, er habe die Erfahrung gemacht, dass niemand so oft über Gott und die Bibel spreche wie die Atheisten. Sollte der Professor in Berlin doch Recht haben?