„Made in China“, hiess es in einer sogenannten Schweizer Qualitätszeitung nach dem Besuch von Premier Li Kejiang in der Schweiz, bedeute „soziales Dumping“ und „in der Regel“ „gesundheitsbedrohende, rechtlose oder gar unwürdige Arbeitsbedingungen“ in Fabriken der „Sonderwirtschaftszonen“. Mit andern Worten: Politik sei der Wirtschaft geopfert und Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards seien vernachlässigt worden. Vom chinesisch-schweizerischen Freihandelsabkommen ist die Rede.
Komplexe Motive
Die Reaktionen auf den Freihandelsvertrag sind zwar in der Schweiz grosso modo selten – wie oben beschrieben – so harsch, dumm und fern der Fakten ausgefallen. Doch die Begeisterung hielt sich gut schweizerisch in Grenzen. In China dagegen wurde der Besuch von Premierminister Li Kejiang und der abgeschlossene Handelsvertrag von den Medien im Allgemeinen und den Wirtschaftskommentatoren im Besonderen bis in die Spalten des Sprachrohrs der Partei „Renmin Ribao“ über allen Klee gelobt. „Die Schweiz ist eines der führenden Länder der Weltwirtschaft“ und hat einen „weltweit erstrangigen Finanzplatz“ – diese von Li in Zürich geäusserten Worte nahmen Chinesinnen und Chinesen mit einigem Staunen zur Kenntnis.
Die Schweiz hat sich in der Tat als Nummer 19 der Weltwirtschaft nicht zu verstecken, selbst dann nicht, wenn mit China, der Nummer 2, verhandelt wird. Die Motivation Chinas, mit der kleinen Schweiz als erstes kontinentaleuropäisches Land ein solches Abkommen abzuschliessen, ist komplex. Handelsdiplomatisch ist es eine Hintertür zur Europäischen Union, ein Brückenkopf. Strategisch gesehen ist der Vertrag ein Signal an andere, nicht nur europäische Länder und ein Handelssprungbrett in andere europäische Länder.
Der gute Ruf der Schweiz
Dass Peking überhaupt mit Bern verhandelt hat, liegt an dem über Jahrzehnte aufgebauten gegenseitigen Vertrauen. Die Schweiz hat bereits 1950 – mitten im Kalten Krieg – diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik aufgenommen. 1980 zu Beginn der Reform war es eine Schweizer Firma (Schindler), die das allererste industrielle Gemeinschaftsunternehmen mit einer chinesischen Firma eingegangen ist. Die Schweiz hat China den Status als Marktwirtschaft zuerkannt, was die EU noch immer scheut. Und jetzt eben das wegweisende Freihandelsabkommen.
Die Schweiz verfügt überdies in der Volksrepublik über einen hervorragenden Ruf. Angefangen mit den von Schweizer Diplomaten und fälschlicherweise so verachteten Klischees wie Schokolade, Uhren, schöne Berge, Luxus, saubere Luft bis hin zu Attributen wie Qualität, Zuverlässigkeit, politische Stabilität oder Innovation. Selbst Schweizer Grossbanken und der Schweizer Finanzplatz insgesamt sind im Reich der Mitte keine Schimpfwörter, sondern im Gegenteil Ausdruck von professioneller Hochachtung. Was Peking den Schweizern hoch anrechnet, ist die Tatsache, dass „Meinungsverschiedenheiten auf der Basis eines gleichberechtigten Dialogs“ besprochen worden sind. In einem in der NZZ und „China Daily“ (Sprachrohr der Regierung) veröffentlichten Artikel von Li Kejiang mit dem Titel, „Warum ich ausgerechnet die Schweiz besuche“, ist denn auch viel von „Vertrauen und Verständnis“ die Rede.
Verschiebung politischer Gewichte
Die Vorteile der Schweiz sind evident. Der Zugang zu einem Riesenmarkt beziehungsweise mehreren chinesischen Märkten wird für Industriegüter aber auch Dienstleistungen verbessert. Technologietransfer, Schutz geistigen Eigentums (Patente, Urheber-, Marken- und Modellrechte), nichttarifäre Handelshemmnisse werden im Vertragswerk berücksichtigt. „Nachhaltigkeit“, d.h. etwa Umwelt und Soziales wird in zwei Zusatzabkommen behandelt.
Da der Schweizer Finanzplatz für China mit der in den nächsten fünf bis zehn Jahren angestrebten Einführung der Konvertibilität wichtig ist, haben Peking und Bern einen „Finanz-Dialog“ beschlossen. Für die Schweiz ist das Freihandelsabkommen auch wichtig für die nahe Zukunft. Ähnliche Abkommen sollen mit andern asiatischen Schwellenländern mit grossem Marktpotential – etwa Indien, Indonesien, Vietnam, Thailand oder Malaysia – verhandelt und abgeschlossen werden. Mittlerweile nimmt man jetzt nach über zwanzig Jahren langsam auch in Europa wahr, dass sich das politische und wirtschaftliche Schwergewicht langsam aber sicher vom atlantischen in den pazifischen Raum verschoben hat.
Ohne Oberlehrer-Zeigefinger
Hilfswerke vermissen Verbindlicheres in der Präambel zum Freihandelsabkommen. Zwar sollen dort Worte wie „Rechtsstaat“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit“, „Wohlstand“, „Demokratie“ oder „sozialer Fortschritt“ festgeschrieben sein. Doch aus der Sicht von Menschenrechtsorganisationen ist das alles unverbindlich, nebulös oder kurz wischiwaschi. Mag sein. Doch bindende Menschenrechts-Formeln haben in einem Handelsvertrag nichts zu suchen.
Die Schweiz opfert jedoch keineswegs Politik zugunsten der Wirtschaft. Im Gegenteil. Schweizer Unternehmen in China, sowohl KMU wie Multis, sind Muster der Nachhaltigkeit und der Mitarbeiterrechte. Die Schweizer Diplomaten haben auch in China Menschenrechtsfragen immer wieder thematisiert. Jeder Bundesrat auf China-Visite hat die Menschenrechte angesprochen. Aber eben nicht mit dem moralischen Oberlehrer-Zeigefinger wie beispielsweise die USA. Resultat ist ein Menschenrechts-Dialog der Schweiz mit China. Fortschritte lassen sich nur so erzielen. Schritt für Schritt. Langsam. Verbesserung der Menschenrechte ist ein Prozess. So war und ist es noch immer in den USA. China ist keine Ausnahme.
„Meilenstein in den Beziehungen“
Den Chinesen und Chinesinnen geht es heute so gut wie noch nie in ihrer dreitausendjährigen Geschichte. Die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen der letzten 34 Reformjahre haben in China nachweisbar zur Verbesserung der Menschenrechte geführt. Dass vieles noch verbessert werden muss, ist selbst der chinesischen Regierung klar. Dass Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen auf Missstände und Verletzungen von fundamentalen Rechten immer wieder aufmerksam machen, ist jedoch unabdingbar und bitter nötig.
Dass Chinas Premierminister Li Kejiang auf seiner ersten Auslandreise als erstes Land in Europa die Schweiz besucht hat, ist von einem nicht zu überschätzenden Symbolgehalt. Das nimmt man vielleicht in der Schweiz nicht so recht wahr. Die aufstrebende Grossmacht China ist nicht harmoniesüchtig. Die lobenden Worte Lis sind deshalb nicht Höflichkeitsfloskeln sondern à la lettre zu nehmen.
Die Schweiz und der Bundesrat können jetzt einmal stolz sein. Allzu viele Gelegenheiten dazu hatte Bern in der jüngsten Vergangenheit nicht. Bundespräsident Ueli Maurer sprach deshalb zurecht auch von einem „Meilenstein in den Beziehungen“. Li Kejiang mit Johann Schneider-Ammann inmitten eines Jodel-Chörlis in Embrach war der Renner in den chinesischen Nachrichtensendungen. Die beiden Politiker strahlten wie die Maikäfer. Ein wahrer Harmonie-Jodel.