Ahmad Djibril, der Gründer und Führer der Volksfront für die Befreiung Palästinas Generalkommando (PFLP-GC), ist am Mittwoch in Damaskus im Alter von 83 Jahren gestorben. Er gehörte zu den Organisatoren des Attentats auf eine Swissair-Maschine, die am 21. Februar 1970 bei Würenlingen (AG) abstürzte und 47 Menschen in den Tod riss. (Foto: AP/Bassem Tellawi)
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Der Südlibanon war schon seit jeher ein umstrittenes Gebiet, und der Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahre 1975 brachte dies wieder ganz besonders ans Licht. Seine Grenze mit Israel war seitens des südlichen Nachbarn durch martialische Befestigungen abgeriegelt, und etwas weiter nördlich war das Gebiet begrenzt durch den Fluss Litani; kaum eine von dessen Brücken war noch intakt. Der grösste Teil der Region wurde von der „Christian Free Lebanon Army“ des berühmt-berüchtigten Major Saad Haddad kontrolliert, einem zumindest zeitweiligen Verbündeten Israels. Doch tummelten sich auch diverse schiitische und palästinensische Milizen in der gebirgigen Gegend, welche sie immer wieder als Basis von Artillerie- und Raketenangriffen auf Städte und Dörfer im Norden Israels missbrauchten.
Gescheiterte Geiselnahme
Im Namen der PLO organisierte eine palästinensische Spezialeinheit am 11. März 1978 einen Angriff auf ein noch weiter südlich gelegenes Ziel. Unter dem Kommando einer gerademal 18-jährigen militanten Fatah-Partisanin machte sich ein Dutzend schwer bewaffneter Kämpfer in zwei Zodiac-Schnellbooten Richtung Tel Aviv auf. Dort wollten sie an Land gehen und in einem der grossen Strandhotels prominente lokale und internationale Geiseln in ihre Gewalt bringen, um so möglichst viele palästinensische Gefangene freizupressen.
Aber schon nach dem Passieren der Landesgrenze kenterte eines der Boote in rauer See und versank, zusammen mit zwei Freischärlern. Das andere Boot landete schliesslich irgendwo südlich von Haifa, wo die Terroristen anfingen, wahllos auf Passanten zu schiessen, um schliesslich einen Überlandbus samt Insassen zu entführen. Während der Fahrt Richtung Süden wurden weitere Menschen innerhalb und ausserhalb des Fahrzeugs ermordet, auch Frauen und Kinder. In Herzliya, nur wenige Kilometer nördlich von Tel Aviv, versuchten israelische Sicherheitskräfte, das Fahrzeug mit allen Mitteln zu stoppen, aber das Vorhaben endete nach chaotischen Schusswechseln in einem Blutbad. Insgesamt gab es rund 50 Tote, inklusive sämtlicher Attentäter, sowie Dutzende von Verletzten, die meisten davon Zivilisten.
Invasion Südlibanons
Am 14. März, drei Tage nach diesem Drama, gab Ministerpräsident Menachem Begin grünes Licht für die „Operation Litani“, eine diskrete Umschreibung für die militärische Invasion Südlibanons. Aktiv unterstützt durch die Luftwaffe rückten 25’000 Soldaten der Israel Defense Forces (IDF oder, in Hebräisch, auch Tsahal genannt) im nördlichen Nachbarland ein.
Mit Ausnahme der antiken Stadt Tyrus wurde das gesamte Gebiet südlich des Litani-Flusses in weniger als einer Woche erobert und besetzt. Tausende von Libanesen und Palästinensern wurden bei diesem Angriff getötet oder verwundet, und mindestens 150’000 mussten ihr Heim verlassen und nach Norden fliehen.
Schlecht vorbereitete Uno-Truppen
Ende März beschloss der Uno-Sicherheitsrat, dort ein Truppenkontingent zu stationieren mit dem unter den gegebenen Umständen eher prätentiösen Mandat, Frieden und Sicherheit wiederherzustellen.
Tatsächlich konnten die schlecht vorbereiteten, ungenügend ausgerüsteten und wenig motivierten UNIFIL-Truppen diesem schwierigen Auftrag kaum gerecht werden, waren sie doch ständig und vor allem um ihre eigene Sicherheit besorgt. Trotzdem gerieten sie immer wieder in Hinterhalte oder wurden in kleinere Gefechte verwickelt, so dass über die Jahre hinweg über zweihundert dieser Soldaten ihr Leben verloren, darunter auch 35 bedauernswerte „Freiwillige“ vom anderen Ende der Welt, den paradiesischen Fidji-Inseln. Das UNIFIL-Mandat besteht übrigens heute noch.
Avraham Amram – an Djibril verschachert
Anfangs April – die ersten Uno-Truppen waren eben im Südlibanon eingetroffen – wurde ein Tsahal-Soldat namens Avraham Amram zusammen mit sechs weiteren israelischen Wehrpflichtigen zum Patrouillendienst in die Grenzregion abkommandiert. An einem trüben Mittwochmorgen verirrte sich jedoch die kleine Einheit – bei den herrschenden Bedingungen ein fataler Fehler. Und so liefen die Israeli geradewegs in eine von Fatah-Kämpfern gestellte Falle.
Vier der Reservisten wurden auf der Stelle getötet, zwei anderen gelang die Flucht. Avraham hingegen wurde als einziger gefangen genommen und wenig später, zu Gott weiss welchem Preis, an einen berüchtigten Kriegsherrn und Terroristen namens Ahmad Djibril verschachert. Dieser war der Führer der PFLP-GC (Volksfront für die Befreiung Palästinas – Generalkommando), einer von Damaskus aus operierenden extremistischen Fraktion der PLO. Zwei von ihm beauftragte Killer hatten die Paketbombe vorbereitet, welche 1970 zum Absturz der Swissair-Coronado in Würenlingen führte und 47 Menschen das Leben kostete. Der inzwischen über 80-jährige Djibril war weiterhin auf der Seite des Asad-Regimes in Syrien aktiv, hatte aber innerhalb der PLO viel an Einfluss verloren.
Das IKRK vermittelt
Wenig später startete Israel die Verhandlungen zur Befreiung des gefangenen Soldaten, wobei dem IKRK eine Art Vermittlerrolle zukam. Als „engagierter Briefträger“, mit den jeweils neuesten Verhandlungsvorschlägen der Israeli in meiner alten Ledermappe, fuhr ich während der folgenden zehn Monaten mehrmals den langen Weg von Tel Aviv nach Kuneitra, auf die von Israel besetzten Golan-Höhen. Dort wurde ich in der Uno-Pufferzone von meinem Kollegen Dave erwartet, seinerseits IKRK-Delegationschef im nahen Damaskus. Zum Austausch unserer Dokumente und zur Erörterung des Ermessensspielraums unserer Rückmeldungen trafen wir uns in der sogenannten „Haifisch Bar“, einem sandigen, von einer Tarnblache überdachten Schützengraben. Dort überliessen uns die gastfreundlichen österreichischen UNDOF-Soldaten einen kleinen Holztisch mit zwei Hockern und offerierten sogar ein Bier dazu.
In den ersten Wochen des darauffolgenden Jahres wurde schliesslich eine Übereinkunft zu einem unter der Schirmherrschaft des IKRK abzulaufenden Gefangenenaustausch erzielt: einer versus sechsundsiebzig ...
Gefangenenaustausch in Genf-Cointrin
Unverzüglich fingen wir an, die komplexe Aktion zu planen und konkret vorzubereiten. Zehn der palästinensischen Häftlinge würden auf ihren Wunsch direkt in der Westbank freigelassen, während für die andern 66 ein simultaner Austausch mit dem israelischen Gefangenen vorgesehen war. Ort dieser heiklen Operation war der Flughafen Genf-Cointrin.
Am 14. März, 1979, genau ein Jahr nach dem Beginn der „Operation Litani“, startete eine vollgetankte Boeing 707 um 4 Uhr morgens von einem israelischen Militärflugplatz in der Nähe von Tel Aviv. Das Flugzeug erschien völlig in Weiss, denn sämtliche Logos und andere allfälligen Hinweise auf seine Zugehörigkeit waren übermalt und die Mehrzahl der Sitze entfernt worden.
Avraham Amram an Bord
Mit mir an Bord befanden sich ein IKRK-Arzt, die 66 am Boden angeketteten palästinensischen Häftlinge, plus eine Anzahl israelischer Besatzungsmitglieder und mehr oder weniger diskret bewaffnete Sicherheitsleute. Die Sonne war eben über der schneebedeckten Schweizer Alpenkette aufgegangen, als wir am eisigen Gipfel des Mont-Blanc vorbei Richtung Genf flogen.
Nicht viel weiter unten entdeckten wir über dem See eine gemächlich fliegende, viermotorige Propellermaschine der Bulgarian Airlines. Es handelte sich um eine graufarbene Tupolew Tu-142, mit den typischen, leicht nach unten geschwungenen Flügeln. Kein Zweifel, es war die vom IKRK gecharterte Maschine aus Damaskus, mit Dave und Avraham Amram an Bord – Swiss timing!
Ein an Paranoia grenzendes Misstrauen
Kaum je zuvor hatten sich die Genfer Flughafen-Behörden auf eine derart heikle Operation eingelassen, und eine beträchtliche Anzahl von Polizisten und Spezialtruppen der schweizerischen Armee waren rund um das Flughafenareal in Stellung gegangen.
Vor und nach unserer Landung wurde der gesamte übrige Flugverkehr eingestellt, bis die zwei Maschinen schliesslich an den entgegengesetzten Enden des Rollfeldes diskret geparkt waren. Zwischen den beiden Parteien herrschte viel Aggression und ein an Paranoia grenzendes Misstrauen, und wir begannen uns ernsthaft zu fragen, ob und wie genau wir diesen Austausch erfolgreich durchziehen konnten. Während die Israeli unter anderem die Möglichkeit eines terroristischen Raketenangriffs aus den benachbarten französischen Waldgebieten auf ihr abhebendes Flugzeug in Betracht zogen, fürchteten die Palästinenser, in letzter Minute um ihre prominentesten Gefangenen betrogen zu werden. Man kann sich leicht vorstellen, dass unter derartigen Umständen eine gute Dosis Überzeugungskraft, extrem viel Geduld und Übersicht wie auch eine tadellos funktionierende Kommunikation und Logistik gefragt waren.
Nach der Freilassung: in Ohnmacht gefallen
Unter den wenigen weiblichen Gefangenen war auch Rima Tannous, eine der zwei überlebenden Flugzeug-Entführerinnen des Sabena-Flugs 571 von Wien nach Tel Aviv vom 8. Mai 1972. Sie war in der Folge in Israel zu 220 Jahren (!) Haft verurteilt worden und schien der ganzen Sache, die im Moment hier ablief, gar nicht zu trauen. Als sie schliesslich aus der Maschine geführt wurde und realisierte, dass der grosse Schriftzug „Genève Cointrin“ tatsächlich echt war, fiel sie lautlos in Ohnmacht. Ich musste die Frau eigenhändig zum Transfer-Bus tragen, wo sie von ihren ebenfalls schon befreiten Mitgefangenen wiedererweckt und gepflegt wurde.
Darunter war auch ein ganz besonders „grosser Fisch“, ein gewisser, mir von diversen Gefängnisbesuchen gut bekannter Samir Darwish. Er schloss sich übrigens nach seiner Freilassung wieder umgehend dem bewaffneten palästinensischen Widerstand an und wurde wenige Jahre später in der grossen Schlacht um die Ruinen des Kreuzfahrerschlosses Château Beaufort im Südlibanon getötet.
Avraham Amram, verwirrt und erschöpft
Das ebenso aufregende wie komplexe Austauschprozedere dauerte vom frühen Morgen bis kurz vor Mittag, als wir endlich wieder Richtung Israel abheben konnten, diesmal mit einem einzigen Ex-Gefangenen an Bord, dem noch reichlich verwirrten, völlig erschöpften, aber offensichtlich erleichterten Avraham Amram.
Um der Gefahr des erwähnten möglichen Raketenangriffs auch ganz sicher zu entgehen, schraubte der Militärpilot die Boeing wie ein Jagdflugzeug steil in die Höhe, und wir waren alle ziemlich erleichtert, als endlich die Horizontale auf normaler Reiseflughöhe erreicht war. Leider war dem armen Avraham keine sehr lange Erholungszeit vergönnt, denn schon nach weniger als einer Stunde fingen die Befragungsexperten an, sich intensiv um ihn zu kümmern.
3 Israeli gegen 400 Palästinenser
Unterdessen war auch die Tupolew wieder in der Luft. Allerdings wurden die feiernden Palästinenser nicht direkt zurück nach Damaskus, sondern zuerst nach Tripoli in Libyen geflogen. Offenbar wollte Oberst Muammar Al-Gaddafi sich dort als Allererster ein gutes Stück des zu erwartenden arabischen Propagandakuchens abschneiden.
Die Operation wurde wohl allgemein als Erfolg verbucht, denn gut sechs Jahre später, im Mai 1985, fand am selben Ort eine weitere, fast identische IKRK-Aktion statt. Diesmal war die Anzahl der Gefangenen noch um einiges grösser, mit drei Israeli im Austausch gegen gut 400 Palästinenser und Araber, plus einem gewissen Herrn Kozo Okamoto. Letzterer war der einzige Überlebende eines Killerkommandos der sogenannten „Japanischen Roten Armee“, welches Ende Mai 1972, auf Anordnung der Volksfront zur Befreiung Palästinas am Flughafen Lod bei Tel Aviv ein scheussliches Blutbad angerichtet hatte. Inzwischen zum Islam übergetreten, lebt der heute über 70-jährige Terrorist aus dem fernen Osten jetzt unbehelligt im libanesischen Bekaa-Tal. Noch im Jahre 2016 entbot die palästinensische Regierungspartei Fatah dem „Lieben Genossen und Helden der Lod-Operation“ ihre herzlichsten Glückwünsche …
Wenn wir auch damals eine gewisse Freude und Genugtuung am Gelingen solcher Austauschoperationen empfanden, finde ich es in der Retrospektive durchaus legitim, sich über deren politische wie moralische Nachhaltigkeit ernsthafte Gedanken zu machen.