Seit ich mich mit Recht und Politik befasse, habe ich größten Respekt vor unserem höchsten Recht, unserer Bundesverfassung. Sie ist unser Grundgesetz und schreibt vor, wie unsere Gesellschaft politisch strukturiert und organisiert ist, welche Rechte und Pflichten unser Land seinen Menschen einräumt und abverlangt.
Besonders beeindruckt hat mich das schweizerische System, das verlangt, dass ein Verfassungstext nur in Rechtskraft erwächst, wenn unsere direkte Demokratie doppelt spielt: es braucht die Zustimmung sowohl der Mehrheit der Stimmberechtigten als auch der Mehrheit der Kantone.
Die Schweiz kennt keine Verfassungsgerichtsbarkeit: verfassungswidrige Bundesgesetze müssen angewandt werden
Umso erstaunter war ich, als ich als Jus-Student lernen musste, dass durch Beschluss des National- und Ständerates Gesetze verabschiedet werden können, welche die Bundesverfassung verletzen und dass sogar das Bundesgericht nichts gegen verfassungswidrige Bundesgesetze unternehmen kann, weil es an diese Gesetze gebunden ist. Das höchste Gericht unseres Landes muss zwar in einem konkreten Streitfall die Verfassungsmässigkeit der anzuwendenden Normen prüfen und gegebenenfalls eine Verfassungswidrigkeit feststellen. Aber es muss trotzdem gemäss Art. 190 BV ein verfassungswidriges Bundesgesetz anwenden.
Diese Ausnahmebestimmung wurde bereits in der ersten Bundesverfassung von 1848 aufgenommen, als die zahlen- und inhaltsmässige Bedeutung der Bundesgesetze weit geringer war als heute. Aber schon damals musste das Bundesgericht einschreiten, wenn die weit zahlreicheren kantonalen oder kommunalen Normen verfassungswidrig waren.
Die Europäische Menschenrechtskonvention: Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Hintertüre
Seither hat sich einiges grundlegend verändert. Das Bundesrecht wurde – insbesondere das Verwaltungsrecht, massiv ausgebaut und komplexer und die Schweiz ist 1974 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten ist.
Seither können Private Entscheide des Bundesgerichtes an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen und diese Instanz ist nicht an das Verbot der BV, dass die Schweizerischen Gerichte die Verfassungswidrigkeit der Bundesgesetze nicht sanktionieren können, gebunden. Um zu verhindern, dass die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen verfassungswidrigen Gesetzen gerügt wird, und weil ein endgültiges Urteil dieses Gerichtshofes für Menschenrechte, das eine Verletzung der EMRK oder der Protokolle festhält, dem Betroffenen das Recht einräumt, ein schweizerisches Urteil revidieren zu lassen, prüft auch das Bundesgericht, ob die in der EMRK geschützten Menschenrechte durch die Bundesgesetze verletzt werden – und wendet diese dann nicht an. Auf diese Weise wurde für einen erheblichen Teil der vom Bundesgericht zu beurteilenden Fäll die Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Hintertür eingeführt.
Ungleichheit unter den Grundrechten: Eigentumsgarantie, Wirtschaftsfreiheit und Souveränität der Kantone zählen weniger
Aber die EMRK garantiert nicht alle in der Bundesverfassung vorgesehenen Grundrechte. Insbesondere die Eigentumsgarantie und die Wirtschaftsfreiheit sowie die Souveränität der Kantone sind nur durch die Bundesverfassung geschützt und können bei deren Verletzung durch Bundesgesetze auch nicht durch die Hintertüre durchgesetzt werden. Das hat zur Folge, dass wir zwei Kategorien von Grundrechten haben, solche die gegen widersprechende Gesetze geschützt werden können und solche, die keinen Schutz geniessen. Diese Ungleichheit wollte das Schweizer Volk sicher nicht.
Lösung: Gerichte wenden verfassungswidrige Gesetze nicht an – alte Zöpfe fallen, Art. 190 BV wird ersatzlos gestrichen
Ich bin ein grosser Anhänger der direkten Demokratie, und gerade deshalb bin ich überzeugt, dass künftig die Gerichte auch in der Schweiz zu verpflichten sind, Gesetze, die der Verfassung widersprechen, nicht mehr anzuwenden. Das erreicht man einfach, in dem der Alte Zopf von Art. 190 BV endgültig abgeschnitten wird, wie es mit mir eine satte Mehrheit der Rechtskommission des Nationalrates anlässlich seiner Sitzung vom 20. Januar 2011 getan hat.
Gewaltenteilung bleibt: kein Richterstaat aber auch keine verfassungswidrigen Gesetze
Damit wird nicht eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit wie sie unsere Nachbarländer kennen, eingeführt. Auch künftig wird in der Schweiz die Gewaltenteilung respektiert: wir werden keinen Richterstaat begründen in dem die gesetzgeberischen Erlasse des Parlamentes direkt vom Gericht ausser Kraft gesetzt werden können. Nur in einem konkreten Anwendungsfall sollen die Gerichte ein verfassungswidriges Bundesgesetz nicht anwenden. Auf dass diejenigen Normen gewinnen, denen nicht nur das Parlament, sondern auch die Mehrheit der Stimmberechtigten und die Mehrheit der Kantone zugestimmt haben. Die Verfassung gewinnt, auch gegen verfassungswidrige Gesetze.