In der Bibel lässt sich nachlesen, wie Gottvater in seinem Zorn über die sündhaften Bewohner von Sodom und Gomorrha Schwefel und Feuer vom Himmel herabregnen liess und die beiden Städte völlig vernichtete. Im Zweiten Weltkrieg übernahm das «Bombing Command» der Royal Air Force die Rolle Gottvaters.
Operation Gomorrha
Bereits im Winter 1941 forschten Spezialisten des englischen Luftfahrtsministeriums danach, wie man durch den kombinierten Einsatz von Brand- und Sprengbomben deutsche Grossstädte möglichst vernichtend treffen konnte. Die Planung lief unter dem Codewort «Gomorrha». Als Ziel wurde die Hansestadt Hamburg ausersehen, deren «Verwundbarkeit» als «hervorragend» eingestuft wurde.
Die Operation «Gomorrha» begann in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 und dauerte mit Unterbrüchen bis Anfang August. Im ersten Grossangriff kamen über siebenhundert Flugzeuge zum Einsatz. Sie warfen eine Bombenlast von 2300 Tonnen auf Wohnquartiere ab. Es kam zu einem sogenannten «Feuersturm». Über der Stadt bildete sich eine Hitzesäule, die frische Luft mit solcher Kraft anzog, dass orkanartige Winde die Menschen in die Flammen rissen. «Gomorrha» forderte insgesamt 37’000 Tote, und etwa 900’000 Bewohner verliessen die Stadt.
Luftmarschall Arthur Harris wertete die Operation als Erfolg und sah sich in seiner Hoffnung bestärkt, man könne Deutschland auf diese Weise demoralisieren und so den Zusammenbruch beschleunigen. Flächenbombardements dieser Art, denen später auch weitere Städte wie Berlin und Dresden ausgesetzt waren, stellten ein schreckliches Novum der Kriegsgeschichte dar. Der Tod von Zivilisten wurde dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar angestrebt. Frauen, Kinder und Greise, aber auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter kamen ums Leben. Der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 wurde schliesslich zum traurigen Höhepunkt in der Geschichte der Flächenbombardements.
Rechenschaft eines Überlebenden
Die Bombardierung Hamburgs ist von Hans Erich Nossack in der Erzählung «Der Untergang» beschrieben worden. Der Text wurde drei Monate nach dem Ereignis verfasst und erschien 1948 im Druck. Hans Erich Nossack, im Jahre 1901 geboren, stammte aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Er studierte ein paar Jahre Jura und Philosophie, war Korpsstudent und Kommunist, arbeitete als Journalist und Hilfsarbeiter. Er schrieb Dramen und Gedichte, und seine frühen Manuskripte gingen im «Feuersturm» unter. Nach dem Krieg publizierte er eine Reihe von Romanen, in denen schwierige Charaktere nach dem Sinn ihrer Existenz suchen. «Der Untergang» wurde zuerst wenig beachtet, ist jedoch zu Nossacks bekanntestem Text geworden.
Der Schriftsteller verdankte sein Leben dem Umstand, dass er mit seiner Frau wenige Tage vor dem ersten grossen Bombardement zur Erholung in ein Heidedorf gefahren war, etwa 15 Kilometer vom südlichen Stadtrand entfernt. Von hier aus verfolgte er den Angriff der Bomberflotte und beschloss, das schreckliche Ereignis in einem Bericht festzuhalten. «Für mich ging die Stadt als Ganzes unter», schreibt er zu Beginn seiner Schilderung, «und meine Gefahr bestand darin, schauend und wissend durch Erleiden des Gesamtschicksals überwältigt zu werden. Ich fühle mich beauftragt, darüber Rechenschaft abzulegen. Es soll mich niemand fragen, warum ich so vermessen von einem Auftrag rede: ich kann ihm nicht darauf antworten. Ich habe das Gefühl, dass mir der Mund für alle Zeiten verschlossen bleiben würde, wenn ich nicht dies zuvor erledigte.»
Der erste grosse Angriff begann nach Mitternacht. Man hörte aus der Distanz den gewaltigen Lärm der Flugzeugmotoren, der krepierenden Granaten und der Fliegerabwehrkanonen. Über der Stadt standen Leuchtschirme, mit denen der Feind das Zielgebiet bezeichnete. «Gegen halb zwei Uhr», schreibt Nossack, «war das Gericht zu Ende. Aus einer unwirklichen Ferne klang das Signal der Entwarnung herüber, so verschüchtert, als wage es nicht zu verlangen, dass jemand an die Lüge glaube. Der Nordhimmel war rot wie nach Sonnenuntergang. Über die nahe Autobahn heulten die Sirenen der Feuerwehren, die aus den Nachbarstädten zu Hilfe eilten. Und dann setzte ein pausenloses Fahren auf allen Strassen der Umgegend ein, am Tage und nachts, diese Flucht aus Hamburg, ohne zu wissen, wohin.
Menschen am Abgrund
Was Nossack an den Flüchtlingen, denen er begegnete, am meisten auffällt, ist deren Sprachlosigkeit. «In der Nacht schon und am frühen Morgen», schreibt er, «waren die ersten Flüchtlinge eingetroffen. Barfuss manche und im Hemd, so wie sie aus dem Bett auf die Strasse gerannt waren. Sie brachten eine unheimliche Stille mit sich. Niemand wagte sie zu fragen, wenn sie stumm am Wegrand sassen; ja, nur ihnen Hilfe anzubieten, schien eine allzu laute Handlung. Dann kamen die Lastautos an. Die Leute hockten fremd darin. Wohin fahren wir? Warum halten wir? Lasst uns noch etwas schlafen! Ihre Hände umklammerten Bündel unverständlicher Habseligkeiten wie ein letztes Gewicht, das sie am Boden festhielt. Nirgendwo Klagen oder eine Träne; wortlos stiegen sie aus und liessen sich wegführen».
Nossack erfährt, dass er alles, Haus und Besitz, verloren hat, und sieht diese Nachricht, als er in die Stadt zurückkehrt, bestätigt. Auch er wird zu einem der vielen Flüchtlinge und teilt mit ihnen das Gefühl, aus der Geschichte, aus der zeitlichen Abfolge des Geschehens, herausgefallen zu sein. Er sieht sich an einem Abgrund stehen, der ihn von den andern Menschen trennt und über den kein Weg zur Normalität führt. «Wir hatten nicht viel Zeit», schreibt er, «wir hatten überhaupt keine Zeit mehr. Wir waren aus der Zeit heraus. Alles, was wir taten, wurde uns sofort sinnlos. Folgten wir begierig einem hoffnungsvollen Gedanken, dann gerieten wir gleich in einen zähen Nebel und setzten uns wieder verzagt an den Strassenrand.»
Niemand von diesen Flüchtlingen versucht das Geschehene zu begreifen, zu erklären. Niemand denkt an Protest oder Aufstand; Schuldzuweisungen unterbleiben, niemand denkt an Rache. Nichts steht den Menschen vor Augen als die übermächtige Gewalt des Schicksals. «Dies alles muss einmal gesagt werden», schreibt Nossack, «denn es gereicht dem Menschen zum Ruhm, dass er am jüngsten Tage sein Schicksal so gross empfand. Und wenn es auch nur für eine kurze Spanne war; denn inzwischen hat sich das Bild wieder verwirrt.»
Bewahrung vor psychischem Schaden
«Wozu dies alles niederschreiben?» fragt sich der Autor. «Wäre es nicht besser, es für alle Zeiten der Vergangenheit preiszugeben? Denn die dabei gewesen sind, brauchen es nicht zu lesen. Und die anderen und spätere? Wie wenn sie es nur läsen, um sich am Unheimlichen zu ergötzen und ihr Lebensgefühl dadurch zu erhöhen?» Nossack gibt keine klare Antwort auf seine Frage, es sei denn diese Bitte um Nachsicht: «Nachsicht mit uns zu haben, wenn wir nicht mehr so sind, wie man uns erwartet, nicht mehr so anwesend, nicht mehr so selbstverständlich?»
Auch wenn der Autor dies nirgends explizit ausführt, spielt bei der Niederschrift seiner Aufzeichnungen gewiss das Bedürfnis mit, eine traumatische Erfahrung durch das Wort zu bannen, um sich vor psychischem Schaden zu bewahren. Dabei hält sich Nossack strikt an das Geschehen, wie es durch ihn beobachtet und wie es ihm durch glaubwürdige Augenzeugen berichtet worden ist. Er schreibt die nüchterne, distanzierte und unterkühlte Sprache des Berichterstatters. Er enthält sich ebenso sehr erklärender Kommentare wie emotionaler Anteilnahme. So ungefähr lesen sich Polizeirapporte oder Gerichtsprotokolle. Ein Tatbestand wird dokumentiert, damit er nicht in Vergessenheit gerät.
Debatte um W.G. Sebalds Essay
Hans Erich Nossacks Schilderung «Der Untergang» ist in den neunziger Jahren wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getreten. Damals vertrat der an einer englischen Universität lehrende deutsche Germanist W.G. Sebald in seinem Essay «Luftkrieg und Literatur» die These, die alliierten Flächenbombardements seien, von wenigen Ausnahmen wie Nossacks «Untergang» abgesehen, von deutschen Schriftstellern nie abgehandelt, sondern verdrängt oder beschwiegen worden. Die betroffene Bevölkerung habe diese «finstersten Aspekte» des Krieges wie «ein schandbares, mit einer Art von Tabu behaftetes Familiengeheimnis» behandelt. Man habe in dieser Katastrophe nicht das «grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration» sehen wollen, sondern habe sie «als erste Stufe des erfolgreichen Wiederaufbaus» ins Positive umgedeutet.
Sebalds These ist mit guten Gründen kritisiert worden. Genauere Nachforschungen haben ergaben, dass es neben Nossacks Darstellung durchaus andere Texte von deutschen Autoren gibt, die sich, wenn auch auf literarisch weniger eindrückliche Weise, mit den Flächenbombardements beschäftigt haben. Gewiss dürfte Nossacks Text die zeitlich erste Dokumentation gewesen sein. Aber in der kaum mehr überschaubaren «Erinnerungsliteratur» zum Nationalsozialismus hat die Beschäftigung mit den Bombardements durchaus ihren Platz. Diese «Erinnerungsliteratur» hat unmittelbar nach dem Krieg und in den folgenden Jahrzehnten eine Vielfalt von Stellungsnahmen hervorgebracht, die sich im weiten Bereich zwischen Verdrängung und Beschönigung, Schuldbekenntnis und Schuldzuweisung bewegen.
Ideologisch ausgeschlachtet
Richtig ist allerdings, und diese Problematik wird von Nossack nicht angesprochen, dass im deutschen Vergangenheitsdiskurs die Flächenbombardements von reaktionären Kommentatoren instrumentalisiert worden sind. So hat man immer wieder auf die Brutalität und die hohen Zahlen ziviler Opfer alliierter Angriffe hingewiesen, um eine moralische Entlastung der eigenen Kriegführung zu erreichen. Stichhaltig ist solche Argumentation jedoch in keiner Weise, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens trugen bereits die ersten Angriffe der Deutschen Flugwaffe auf Rotterdam, Coventry und London den Charakter von Flächenbombardements, auch wenn Hitler-Deutschland damals noch nicht über das Vernichtungspotential der alliierten Bomberflotten verfügte. Zweitens muss betont werden, dass, wer einen Krieg auslöst, nicht nur für den Ausbruch, sondern auch für die Kriegsfolgen verantwortlich zeichnet. Was schon Friedrich Schiller wusste, der dichtete: «Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, Böses muss gebären.»
Nicht kriegsentscheidend
Wenn Luftmarschall Harris meinte, sein «area bombing» würde zur Demoralisierung des Gegners und damit zur Verkürzung des Krieges führen, irrte er sich. Die trotzige Durchhaltebereitschaft verstärkte sich ebenso wie die Loyalität gegenüber einem Unrechtsregime, das nicht zögerte, die Brutalität des Bombenkrieges propagandistisch zu nutzen. Zweifellos hätte mit gezielten Angriffen auf kriegswirtschaftlich wichtige Industrieanlagen mehr erreicht werden können. «Die Moral der deutschen Zivilbevölkerung», schreibt denn auch der britische Militärhistoriker John Keegan, «kam durch die Bombardierungen nie ins Wanken.»