Das Unheilige zuerst, und es ist eines der berühmtesten Bilder von Hans Baldung Grien (1484/85–1545): Wir sehen zwei junge Frauen, links eine stehend und mit hoch erhobener Hand, mit der sie ein langes Tuchband hochhält, das wohl kurz zuvor die sitzende Frau rechts noch bedeckte. Auch sie hält triumphierend eine Hand hoch und präsentiert eine mit einem roten Zapfen verschlossene Glasflasche. Darin ist ein kleiner Drache zu sehen. Der Maler zeigt die beiden Frauen in provozierender Nacktheit. Wer sind sie? Hexen? Was tun sie?
Da gibt es ja noch einen Ziegenbock (nur der Kopf ist zu sehen), auf dem die Frau rechts reitet, und da ist ein Knabe, der eine lodernde Fackel hochhält. Der Himmel über dem Geschehen ist von einem Feuer rot und giftig gelb beleuchtet – ein Weltenbrand?
Das kleine Bild (es gehört dem Städel-Museum Frankfurt) entstand 1523. In Karlsruhes Strassen prangt es riesengross auf Fahnen als Hinweis auf die Ausstellung „Hans Baldung Grien – heilig – unheilig“ in der Staatlichen Kunsthalle. Das Bild ist in seiner Zeit einmalig. Die dreist auftretenden jungen Frauen erfahren ganz unterschiedliche Interpretationen. Sie reichen von verschlüsselter Warnung vor der damals neuen Seuche der Syphilis (in der Ampulle soll sich eine Quecksilberlösung befinden) bis zur witzigen Polemik gegen Henrich Institoris’ „Hexenhammer“, dessen Veröffentlichung im Jahr 1485 die grausamen Hexen-Verfolgungen einläutete.
Wer ist der Maler?
Hans Baldung Grien war als junger Künstler Mitarbeiter in Dürers Werkstatt in Nürnberg, wo er, im Kontakt mit dem Meister und in aus Italien importierter Druckgrafik, mit der modernen Kunst ersten Ranges konfrontiert wurde. Wegen seines malerischen Hauptwerkes, des Altars des Münsters, verbrachte er einige Jahre in Freiburg i. Br. Ab 1517 lebte und arbeitete er mit grossem Erfolg in Strassburg. Er bediente sich mit Könnerschaft und Erfolg aller Medien (Zeichnung, Druckgrafik, Glasmalerei, Malerei, dabei Heiligenfiguren, Allegorien, Mythologisches, aber auch Porträts bedeutender Persönlichkeiten), liebte, wie das Hexenbild zeigt, die Provokation und war weit entfernt von aller Harmlosigkeit und Schönheit um ihrer selbst willen. Sein Werk spiegelt wie kaum ein anderes die Spannungen der Zeit der beginnenden Reformation. Als Künstler des Übergangs von spätgotischer Frömmigkeit über die Raffinessen der Renaissance im Geist Dürers bis hin zum exzentrischen Manierismus ist er eine faszinierende Ausnahmeerscheinung.
Erste Retrospektive seit 60 Jahren
Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe ist, als Besitzerin vieler seiner Gemälde und Arbeiten auf Papier, prädestiniert, einen Überblick über sein weit verstreutes Schaffen zu zeigen. Holger Jacob-Friesen, Leiter dieses Grossunternehmens, löst mit der Ausstellung hohe Ansprüche ein. Er zeigt 62 Gemälde Baldung Griens und damit zwei Drittel des Gesamtbestandes, dazu Zeichnungen und Druckgrafik und erst noch, als Vergleichsmaterial, viele Werke von Zeitgenossen. Die Ausstellung ist damit umfassend. Sie ist klar gegliedert nach Chronologie, aber auch nach Themen. Der Katalog mit rund 500 Seiten und Kommentaren zu allen Exponaten gibt einen guten Überblick über das Schaffen Baldung Griens und über die von Unrast geprägten geistigen Strömungen seiner Wirkungszeit.
Das Unternehmen mit dem auf Prestigegewinn zielenden Titel „Grosse Landesausstellung Baden-Württemberg 2019“ ist verdienstvoll, denn 60 Jahre sind seit der letzten Baldung-Ausstellung (ebenfalls in Karlsruhe) verstrichen. Seither gab es nur kleine Kabinett-Ausstellungen zu Einzelthemen wie „Hexen“ oder „Baldung Grien in Freiburg“.
Ein Meister der Zeichnung
Die Ausstellung ist reich an Facetten. Eine Abteilung ist dem Zeichner gewidmet und zeigt unter anderem ein Skizzenbuch – nach dem Tod des Künstlers zusammengefasste Silberstift-Zeichnungen – mit Detailstudien zu Gemälden. Das Material bietet faszinierenden Einblick in Baldung Griens bildnerisches Denken, in die Qualität seines Naturstudiums, in seine Präzision in der Darstellung jedes Details des menschlichen Körpers. Ein anderes Thema ist die Zusammenarbeit mit Dürer. Da lässt sich vergleichen, wie beide Künstler gleiche Themen ähnlich und doch verschieden behandelten. Oder die Druckgrafik Baldung Griens: Ein exzentrischer Höhepunkt ist die Holzschnitt-Serie, welche der absurd und frustrierend ausfallenden Begegnung eines Hengsts mit einer rossigen Stute gewidmet ist.
Virtuosität fürs Kunstkabinett
In diesen Kontext gehört auch der wohl bekannteste und zugleich rätselhafteste Holzschnitt des Künstlers mit dem Titel „Der behexte Stallknecht“ (um 1534).
Da kommen manche der Themen Baldung Griens zusammen – die Hexe rechts im Bild, das nervöse und triebhafte Pferd, Eros und Thanatos im tot oder wie tot daliegenden Mann mit überdimensionierter Schamkapsel. All das ist mit Meisterschaft gezeigt, bis hin zur extremen Verkürzung des liegenden Mannes. Und doch findet keine der vielen Fragen, die man sich vor dem Blatt stellt, eine Antwort: Der Holzschnitt ist bestens geeignet für einen gelehrten Disput unter gebildeten Herren im Kuriositätenkabinett. Tatsächlich unterhielt Baldung Grien Beziehungen zu gelehrten Humanisten-Kreisen in Strassburg.
Auch das eingangs erwähnte kleine Bild mit den beiden Hexen passt dazu – wie auch die Hexenzeichnungen und -Grafiken generell, die als kostspielige Drucke einer breiten Öffentlichkeit kaum zugänglich waren und eher in exklusiven Kreisen (oder gar Geheimbünden?) gehandelt und diskutiert wurden. Dass es sich dabei um Männerzirkel gehandelt hat, ist zu vermuten. Da läge heute wohl der Vorwurf des Sexismus nahe. Bestes Beispiel für all das ist eine Federzeichnung, die drei nackte Frauen in ekstatischen, höchst lasziven Posen zeigt. Das Blatt von 1514 ist, wie die Inschrift besagt, ausgerechnet einem Kleriker als Neujahrsgruss gewidmet.
Revolutionäre Ikonografie
Diese profanen Sujets sind die eine, oft irritierend undurchschaubare Seite von Hans Baldung Griens Schaffen. Eine andere Seite sind seine religiösen Bilder, die ihn sein Leben lang beschäftigten – auch in den eher bilderfeindlichen Zeiten der beginnenden Reformation, in denen er sich als Künstler geschickt zu behaupten verstand. Er widmete sich konventionellen Bildthemen, zum Beispiel im Hochaltar von Freiburg i. Br., der in Karlsruhe nur in einer interaktiven Visualisierung zu sehen ist. Einen eigentlichen Schwerpunkt in seinem Schaffen spielen auch die Marien-Bilder.
Er trieb aber die traditionelle Ikonographie weit über das damals Übliche hinaus in neue visionäre Dimensionen. In „Die Geburt Christi“ von 1530 etwa sehen wir unten das schlafende Christkind, das zwei Engel bewachend in den Armen halten.
Das wird oft gedeutet als Hinweis auf den Tod Jesu. Das Werk gleicher Thematik, das sich im Städel-Museum in Frankfurt befindet und 1539 entstanden ist, zeigt uns ein in grellem Weiss gemaltes Jesuskind, von dem ein so intensives Licht ausgeht, das sich der heilige Josef schützend die Hand vor die Augen halten muss. Baldung Grien fand hier ein griffige und völlig neue Visualisierung des Jesus-Wortes „Ich bin das Licht der Welt“.
Der Sündenfall
Eine für die Entstehungszeit extreme Ausweitung der Ikonographie erfuhr im Werk Baldung Griens das Thema des Sündenfalls Adams und Evas im Paradies, zu dem traditionell Adam, Eva, die Schlange und der Apfel gehören. Dürer zeigt in seinem berühmten Kupferstich von 1504 noch alle diese Elemente in einer paradiesischen, harmonisch ausgeglichenen Landschaft, doch richtet er sein Interesse vor allem auf die perfekte Schönheit der beiden Akt-Figuren, die wohl einander zugewandt sind, aber doch eigenständig nebeneinander stehen. Baldung Grien setzt schon 1511 in einem Holzschnitt neue Akzente: Die Schlange ist noch sichtbar, doch den Apfel entdecken wir kaum.
Adam schmiegt sich seitlich an die in attraktiver Schönheit gezeigte Eva und liebkost ihre Brust. Auf einer Steintafel ist zu lesen „Lapsus Humani Generis“ (Der Sündenfall des menschlichen Geschlechts.) 1531 malt er das Stammelternpaar lebensgross. Der liebkosende Zugriff Adams ist intimer. Eva bezieht die Betrachter augenzwinkernd ins Geschehen ein. Die Malerei strahlt eine unterkühlte und geheimnisvolle Erotik aus. Der Bedeutungswechsel ist unverkennbar: Die erotische Spannung zwischen Mann und Frau führt zum Sündenfall. Dabei überlässt es der Künstler uns, das Geschehen zu werten.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Komposition mancher Vanitas-Darstellungen Baldung Griens diesen „Sündenfall“-Bildern gleicht, auch wenn der Künstler die Bilddramatik ins Extreme steigert. Drastisches Beispiel: Auf einer Tafel des Kunstmuseums Basel, einem kleinen Kabinettstück von höchster Raffinesse, schmiegt sich der Tod von hinten an die entblösste junge Frau und raubt sich von der Widerstrebenden einen Kuss: Ein Bild von zweifellos provozierender Direktheit, das die Gegenpole Eros–Thanatos auf die schauerliche Spitze treibt.
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Bis 8. März. Katalog 40 Euro.