«Die Welt erfahren» ist wörtlich gemeint: Christoph Rütimann fährt mit einer Video-Handkamera Handläufen und anderen Linien entlang – im Kunstmuseum Winterthur, aber auch in der ganzen Welt.
Die Videoinstallation «Handlauf Kunst Museum Winterthur» wirkt monumental: Auf die ganze Wand des Ausstellungsraumes im Parterre sind, in Triptychon-Anordnung, drei Videos projiziert. Christoph Rütimann führt eine kleine Handkamera in raschem Tempo über die Kanten und Begrenzungslinien und durch die Innenräume der drei Winterthurer Museumsbauten Reinhart am Stadtgarten, Beim Stadthaus und Villa Flora.
Wir blicken aber mit der Kamera nicht aus Distanz auf die Gebäude, sondern nehmen die Standpunkte der Gebäude ein und erfahren ganz unmittelbar und hautnah deren Volumen. Rastlos geht’s durch die Räume. Wir «er-fahren» nicht nur die Ausstellungssäle mit den Kunstwerken, sondern auch die Depots, Treppenhäuser, Zwischen- und Abstellräume. Es ist ein hastiger Besuch der beiden Häuser mit den Winterthurer Sammlungsbeständen und der wegen der Sanierung ausgeräumten Hahnloser-Villa Flora. Zeit zum Verweilen vor den Kunstwerken gibt es nicht.
Drei Häuser, ein Museum
Die drei Videofilme sind unterschiedlich lang. Sie starten am Morgen gleichzeitig. Das führt zu unkalkulierten Verschiebungen: Wir sehen die einzelnen Bilder in stets wechselnden Konstellationen. Der Bilderfluss ist voller Überraschungen. Allerdings ersetzen die Kamerafahrten keinen Museumsbesuch. Der lässt sich ohnehin nur an Ort und Stelle und nach eigenem Tempo bewerkstelligen, denn nichts ersetzt die Begegnung mit dem Original.
Vielleicht will Rütimann genau das ins Bewusstsein rufen, und sicher bietet er mit der Video-Verschränkung der drei Museumsbauten die Möglichkeit einer Gesamtschau und spornt zum Überdenken der Institution Museum und zum Vergleichen an. Drei Häuser bilden zusammen ein Museum. Die ganze Breite der Kunst ist versammelt – eine Utopie. Im Fokus steht nicht das Trennende, sondern, bei allen Unterschieden, das Gemeinsame. Ein Museum und drei Häuser: Das ist in Winterthur allerdings noch Vision, denn der Prozess des Zusammenführens ist noch im Gange. Abgeschlossen ist er erst, wenn die Villa Flora saniert ist. Das war für 2023 geplant, dauert aber sicher bis 2025.
Wege in die weite Welt
Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich Christoph Rütimann mit «Handläufen», wie er diese Kamerafahrten als Protokolle seiner eigenen Wahrnehmung von Gebäuden, von Innen- und Aussenräumen, aber auch von Stadt- und anderen Landschaften nennt. Er bedient sich dabei stets der kleinen Handkamera, die er über Kanten und Geländer führt. Die oft ratternden und stotternden Geräusche, die diesen Akt begleiten, sind als Tonspur Bestandteil der Videos.
Die Grossprojektion wie jetzt in Winterthur ist die Ausnahme, denn in aller Regel lässt Rütimann die Videos auf kleinen Monitoren abspielen. Insgesamt entstanden rund 150 solcher «Handläufe». Gut dreissig davon zeigt er im Kunst Museum Winterthur am Stadtgarten und beim Stadthaus. Dazu baute er in den Foyers der beiden Häuser über zwei Stockwerke reichende Gerüste auf. Die kleinen Monitore sind so am Gestänge angeordnet, dass die Besucherinnen und Besucher stets nur einige wenige Bilder im Blickfeld haben, und dass ihre Neugier sie nach oben führt.
Christoph Rütimann wurde 1955 in Zürich geboren. Er besuchte die Schule für Gestaltung in Luzern und wirkte einige Jahre als Zeichenlehrer an der Kantonsschule Willisau. Es folgten Gastprofessuren an der Kunsthochschule in Kassel und an der Hochschule der Künste in Bern. 1993 gestaltete er als Schweizer Biennale-Beitrag in Venedig den Kirchenraum San Staë. Einzelausstellungen u.a. Abteikirche Bellelay, Kunsthaus Zug, Kunstmuseum Solothurn, Kunstmuseum Bonn, Kunstmuseum St. Gallen und Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kunstmuseum Luzern, Kunsthalle Bern, Westfälischer Kunstverein Münster. Christoph Rütimann lebt in Müllheim im Kanton Thurgau.
Im Titel des Katalogtextes von Museumsdirektor Konrad Bitterli, der die Ausstellung kuratierte, findet sich das Wortspiel «Handläufe und Geh-Länder». Es misst die Spannweite von Rütimanns Unternehmen aus: Handläufe oder Geländer führen Treppen und Korridoren entlang und durchmessen Innenräume. Geländer werden zu «Geh-Ländern» – und die findet Rütimann in der weiten Welt: Von Jordanien über die Türkei, den Balkan nach Norden bis Tallin, von London nach Osten bis Korea und China erfährt er mit seiner Handkamera Räume und Geländelinien.
Sein Vorgehen – man könnte es Performances ohne Publikum nennen – ist ambivalent: Mal bleibt er den vorgegebenen Linien treu, mal geht er eigenwillig seine eigenen Wege, die auch durch Häuser und Mauern führen können. Das ist oft nur mit akrobatischen Verrenkungen möglich. Er zeichnet so seine persönliche Wahrnehmung der Welt und der Menschen, die ihm begegnen, auf. Manche weichen ihm aus, um seine Fahrt zu erleichtern. Vielleicht lächeln sie dabei freundlich oder verlegen. Manche verweigern den Blickkontakt. Wir wissen nicht, was in ihnen vorgeht. Die Fahrt über «Handläufe und Geh-Länder» wird so nicht immer, aber häufig auch zur Fahrt zu den Menschen in aller Welt.
Blick aufs Zentrum
Linien spielen in Christoph Rütimanns ganzem Werk eine wichtige Rolle, ob in Zeichnungen von monumentaler Grösse, ob in Installationen, in denen sie sich durch die Räume schlängeln, Horizonte markieren oder imaginäre Räume nachzeichnen. Einer mäandrierenden Linie durch die halbe Schweiz folgte er auch mit seiner Performance «Eine Einigelung», die ihn vom Bodensee über Zürich, Zug, Luzern bis nach Bellelay im Berner Jura führte. Rütimann fuhr mit seiner Handkamera auch der Grenze zwischen Süd- und Nordkorea entlang oder über die Chinesische Mauer, die das Reich der Mitte gegen aussen schützen sollte: Ein Ausschluss des Fremden. Eine Erfahrung in diesem Kontext: Als Grenzen trennen Linien. Und Linien fassen Gegensätzliches und Getrenntes zusammen.
Im Mittelpunkt von Rütimanns Arbeit steht die Gesamtschau – und das nicht nur in den «Handläufen», auf die sich die Winterthurer Ausstellung konzentriert. Aus stets wechselnden Standpunkten lässt er uns aufs Zentrum seines künstlerischen Denkens blicken. Er bedient sich dabei ganz unterschiedlicher Medien wie Bild, Sprache, Malerei, Zeichnung, Installation, Video, Performance. Bei allem Spielerischen, das in den «Handläufen» und vielen andern seiner Arbeiten anklingt, und bei aller Schaulust, die er, oft augenzwinkernd ironisch, zu befriedigen weiss: Seine Arbeit, gerade sein «Handlauf»-Gang durch die Welt, ist bei aller Lust, die sie weckt, vielschichtig und komplex und geprägt vom Denken in Zusammenhängen und Widersprüchen. Das lässt sich, obwohl dem Künstler belehrende Schulmeisterei fremd ist, als Weltsicht von politischer Dimension sehen.
Kunst Museum Winterthur beim Stadthaus und am Stadtgarten
Bis 19. März 2023
Eine Publikation mit Texten von Konrad Bitterli, Lynn Kost, David Schmidhauser und Andrea Lutz erscheint später in den Edizioni Perferia Luzern.