Israel hat von 2008 bis zum 7. Oktober 2023 – dem Tag des Massakers an 1200 Israeli – schon vier Kriege gegen die Hamas und gegen Gaza geführt. Die Wurzeln des islamischen Widerstandes aber reichen bis in die 1930er Jahre. Ein historischer Überblick.
Im November 1935 verschanzte sich ein Mann namens Izz al-Din al-Qassem mit ein paar palästinensischen Kämpfern in der Gegend der palästinensischen Stadt Jenin (die während der zweiten Intifada 2002 von israelischen Truppen unter dem Befehl von Ariel Scharon fast dem Erdboden gleich gemacht wurde) und begann einen Aufstand gegen die britische Kolonialmacht und gegen die von Grossbritannien geförderte Einwanderung europäischer Juden. Al-Qassem starb in dem Gefecht mit britischen Truppen. Doch der Tod des bekannten Predigers war eine Ursache für den als «Grosser Arabischer Aufstand» in die Geschichte der Region eingegangenen Kampf gegen ausländische Kolonisation.
Zur Erklärung: Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg hatte der neu gegründete Völkerbund Grossbritannien das «Mandat» über Palästina gegeben. Getreu den Worten des britischen Aussenministers Arthur Balfour, der 1917 die Einwanderung von Juden nach Palästina befürwortet hatte, förderte England die Einwanderung von Juden nach Palästina. Einige Palästinenser sahen darin einen wirtschaftlichen Vorteil, sie verkauften Land an die einwandernden Juden, an die Zionisten, wie sie sich nannten. Doch die Stimmung im Land wandte sich mehr und mehr gegen die Kolonialherren. Grosse, landbesitzende Familien wie die al-Husseinis und die al-Nashabishis formten schliesslich das «Higher Arab Committee». Von 1936 bis 1939 dauerte der vom Committee organisierte Aufstand gegen die Briten und die einwandernden Juden.
«Der Grosse Arabische Aufstand»
Ted Swedenburg, einst Historiker an der Universität von Arkansas, scheibt in seinem Buch «Memories of Revolt – The 1936–1939 Rebellion and the Palestinian National Past», der Aufstand sei den Briten aus der Hand gelaufen und habe die Ölpipeline Kirkuk-Haifa und Palästina, ein Herzstück des Empires, bedroht. Premier Neville Chamberlain habe zusätzliche Truppen in die Region senden müssen. Swedenburg deutet an, der «Grosse Arabische Aufstand» habe Chamberlains Position vermutlich so geschwächt, dass er beim Münchner Abkommen mit Hitler vom 30. September 1938 (beteiligt waren auch Edouard Daladier und Benito Mussolini) zu nachgiebig gewesen sei und deshalb Hitlers Forderung nach Räumung des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei innert zehn Tagen zugestimmt habe.
Mit neuen Truppen warfen die Briten den arabischen Aufstand schliesslich nieder, 5’000 Palästinenser verloren ihr Leben, die Juden verzeichneten 463 Tote.
Die Palästinenser wurden nicht gefragt
Izz al-Din al-Qassem, einer der Initiatoren des Aufstandes, hatte zwar sein Leben verloren – aber die 1987 gegründete Hamas, die «Islamische Widerstandsbewegung» erweckte sein religiöses Vermächtnis zu neuem Leben. Der bewaffnete Arm der Hamas, die «al-Qassem-Brigaden», sind nach ihm benannt. Auch sein Lebenslauf passt in die Weltanschauung der Hamas. Syrischen Ursprungs, hatte al-Qassem gegen die Franzosen in Syrien gekämpft, war zum Tode verurteilt worden, war nach Haifa geflohen, wo er eine Abendschule für verarmte Bauern gegründet hatte, hatte islamische Lebensweise und palästinensischen Patriotismus gepredigt – ein perfektes Vorbild also für Anhänger der Hamas.
Vier Jahrzehnte vor der Entstehung der Hamas, im Jahr 1947, hatte die neu gegründete Uno beschlossen, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Die inzwischen zahlreich eingewanderten Juden hatten zugestimmt; die Palästinenser, auf deren Land der jüdische Staat entstehen sollte, waren – wie zuvor auch in den 1930iger Jahren über die jüdische Kolonisierung – nicht gefragt worden.
Gegen die PLO
Die Hamas folgte der islamischen Weltanschauung ihres Vorbildes Izz al-Din al-Qassem, wandte sich mithin auch gegen die laizistische Weltanschauung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafats. Auch Arafat hatte ursprünglich ganz Palästina «befreien» wollen, hatte sich dann aber mit einer Zweistaatenlösung zufrieden gegeben. Hamas wollte und will bis heute, in ganz Palästina einen islamischen Staat errichten.
Damit trat der Konflikt in eine neue Phase. Denn wie einst Arafats PLO versucht erneut eine Gruppe Palästinenser, ganz Palästina zu beherrschen. Allerdings hat man nie versucht, mit der Hamas, wie zuvor mit Arafat, ins Gespräch zu kommen. Auch Arafat wollte einst ganz Palästina befreien, wurde dann aber durch intensive Verhandlungen dazu gebracht, die Vernichtung Israels aus der PLO-Charta zu streichen. Mit der «islamistischen» Hamas wurden solche Verhandlungen nie geführt (siehe auch weiter unten).
Das Resultat: Eine Chronik von politischen Wirren, vor allem aber eine Chronik blutiger Kriege.
Hier eine (möglicherweise nicht ganz vollständige) Aufstellung:
- 1989: Israel verhaftet Hamas-Gründer Scheich Ahmed Yassin.
- 1991: Israel verurteil Ahmed Yassin zu lebenslanger Haft.
- 1994: Hamas lehnt den Eintritt in die von Jassir Arafat neu gegründete palästinensische Autonomiebehörde ab.
- 1996: Israel tötet den Bombenbauer der Hamas, Yahya Ayyash.
- 1997: Ein Giftattentat des israelischen Geheimdienstes Mossad gegen das führende Hamasmitglied Khaled Meshal in der jordanischen Hauptstadt Amman scheitert. König Hussein fordert und erreicht von Israel die Freilassung von Hamas-Gründer Scheich Ahmed Yassin.
- 2004: Yassin wird von Israel in seinem Haus in Gaza getötet.
- 2005: Hamas boykottiert die palästinensischen Präsidentschaftswahlen. Nachfolger des 2004 gestorbenen Jassir Arafats wird Mahmud Abbas.
- 2006: Die Hamas gewinnt die palästinensischen Parlamentswahlen. Unter der Liste «Wechsel und Reform» bekommt die Hamas 74 von 132 Sitzen. Im Wahlkampf hatte Hamas versprochen, alle bestehenden Verträge (gemeint die Übereinkommen von Oslo aus dem Jahr 1993) zu achten. Die sogenannte «internationale Gemeinschaft» erkennt den Hamas-Sieg nicht an. Grund: Hamas weigere sich, Israel anzuerkennen. Am 13. Februar bietet Khaled Meshal, inzwischen in Damaskus lebend, Israel einen Waffenstillstand an, sofern Israel die Waffenstillstandslinien von 1949 anerkenne. Am 19. März bildet Hamas eine Regierung für das Westjordanland und Gaza. Im selben Jahr, am 2. Juni 2006, entführt die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Shalit. Hamas fordert für die Freilassung von Shalit die Entlassung von 3’000 Palästinensern in israelischer Haft.
- 2007: Hamas und Fatah (ein Mitglied der PLO) beenden einen internen Bürgerkrieg, der mehr als 200 Tote gefordert hat. Danach formen Hamas und Fatah eine gemeinsame Regierung. Im Juni desselben Jahres erneut Kämpfe zwischen Fatah und Hamas. Seitdem regiert die PLO unter Mahmud Abbas das Westjordanland, die Hamas den Gazastreifen.
- 2008: Im November tötet Israel sechs Hamasmitglieder, die Kriegsvorbereitungen getroffen haben sollen. Es folgt der erste von vier Gazakriegen. Dieser unter dem Motto «Gegossenes Blei» endet im Januar 2009. Anlass ist offensichtlich die Inauguration von Präsident Barak Obama.
Professorin Helga Baumgarten, viele Jahre Dozentin an der Universität in Bir Zeit bei Ramallah, schreibt in ihrem Buch «Kein Frieden für Palästina», unter den Opfern seien 200 Kinder und Jugendliche und 191 Frauen gewesen. 1600 Kinder und 830 Frauen seien verletzt worden. 2000 Häuser, in denen etwa 20’000 Menschen gewohnt hätten, seien vollständig zerstört worden.
2012: «Pillar of Defence»
Der nächste Gazakrieg – diesmal unter dem Codenamen «Pillar of Defence» – dauerte vom 14. November bis 21. November 2012. Wiederum stand am Anfang die Tötung eines Hamasführers durch Israel. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation «al-Mazan» zählte nach Angaben von Helga Baumgarten 170 Opfer, davon 109 Zivilisten, darunter 34 Kinder und 13 Frauen.
2014: «Protective Edge»
Der nächste Gazakrieg – unter dem Motto «Protective Edge» – dauerte vom 8. Juli bis zum 26. August 2014. Vorläufer des Kriegs war die Tötung dreier israelischer Jugendlicher im Gebiet der Stadt Hebron – dieses Gebiet stand und steht unter völliger Kontrolle Israels. Premier Netanjahu machte die Hamas verantwortlich, lieferte aber keine Beweise. Am 2. Juli 2014 wurde, offenbar als Vergeltungsakt, der sechzehnjährige Palästinenser Abu Khadair in Ostjerusalem von radikalen jungen Israeli entführt und ermordet. (Alle Angaben nach Helga Baumgarten.) Nachdem am 7. Juli 2014 sieben Hamaskämpfer von Israel getötet worden waren, wurde Israel aus dem Gazastreifen mit Raketen beschossen. Nach palästinensischen Angaben wurden 1’030 Menschen getötet, nach UN-Angaben waren darunter zwei Drittel Zivilisten.
2021: «Guardian of the Wall»
Schliesslich der letzte Krieg um Gaza vor den Meuchelmorden der Hamas vom 7. Oktober 2023: Dieser Krieg unter dem Motto «Guardian of the Wall» vom 10. bis 31. Mai 2021 forderte 248 palästinensische Todesopfer, darunter 66 Kinder. 13 Israelis wurden getötet.
Gewalt, Folter, Tod – das sind die Kennzeichen des Kampfes um Palästina von Anbeginn an. Am Anfang der Tragödie stand die britische Mandatsmacht in Palästina. Den «Grossen Arabischen Aufstand» bekämpfte sie mit ihren, fast möchte man sagen, üblichen Mitteln. Der französische Historiker Henry Laurens hat das Schicksal Palästinas in drei umfangreichen Büchern geschildert. Er zitiert einen Vorfall vom 3. Dezember 1937 aus dem Dorf Kafr Manda bei Nazareth. Nachdem die Kolonialtruppen vergeblich alle Häuser nach Waffen durchsucht hätten, schreibt Laurens, habe man die Männer auf dem Dorfplatz versammelt, mit Öl übergossen, durch den Staub getrieben, mit Eiern beworfen und schliesslich mit Holzstöcken geschlagen.
2023: Hamas-Massaker, israelische Bombardierungen
Bagatellen, möchte man sagen, im Vergleich zu den Massenmorden, die 85 Jahre später, im Herbst 2023, Israel und Gaza heimsuchen. 1’200 von der Hamas gemeuchelte friedliche israelische Zivilisten und danach durch israelische Bombardierungen – bis jetzt – fast 11’000 Tote in gut vier Wochen – darunter mehr als 4000 Kinder. Die Vereinten Nationen bestätigen diese von der Hamas kommenden Zahlen weitgehend – auch deshalb, weil die ebenfalls von der Hamas angegeben Statistiken aus den früheren Gazakriegen überwiegend korrekt gewesen seien.
Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen? Die Sehnsucht nach Befriedung der Region hat schon fünf Friedensnobelpreise, man möchte sagen, kreiert. 1994 wurden Jassir Arafat, Jitzhak Rabin und Shimon Peres für ihre Versöhnungsbemühungen zwischen Israeli und Palästinensern ausgezeichnet. Zuvor, 1978, waren der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat und Israels Premier Menachem Begin für die Verständigung zwischen beiden Ländern geehrt worden. Zwei der fünf Ausgezeichneten – Jitzhak Rabin und Anwar el-Sadat – wurden von Unversöhnlichen ihrer Völker ermordet.
Ausweglos wie nie
Und nun? So ausweglos wie derzeit war die Lage wohl nie. In diesem politischen und militärischen Brachland erinnern sich manche an eine uralte Idee. Plötzlich reden wieder viele von der Zweistaatenlösung. Aber wer hat diese Lösung in den letzten Jahren vorangetrieben? Lippenbekenntnisse waren alles, was verantwortliche Politiker zustande brachten. Die letzten «Friedensverhandlungen» fanden – wie zum Beispiel der israelische Historiker Moshe Zimmermann beklagt – vor fast einem Jahrzehnt, im Jahr 2014 statt. Seitdem nur diplomatisches Schweigen – sowohl in der westlichen Welt als auch auf arabischer Seite. Glauben Sie denn – so etwa äusserte sich einst Marwan al-Qassim, ein hoher jordanischer Diplomat gegenüber dem Autor dieser Zeilen – glauben Sie denn, dass irgendein arabischer Staat Interesse daran hat, auf dem kleinen Territorium Palästinas noch einen Ministaat, einen palästinensischen zu gründen?
Auch die viel gepriesene Annäherung Israels an verschiedene arabische Staaten – etwa jene am Golf und an Saudi-Arabien – hätte den Palästinensern in den von Israel besetzten Gebieten nichts genützt. Der israelischen Regierung dagegen hätte diese Annäherung einen politischen Vorteil gebracht. Auf internationalem Parkett wären arabische Staaten und Israel gelobt und allenfalls aufgefordert worden, nun auch an das Los der Palästinenser zu denken, ihnen ein paar politische und wirtschaftliche Almosen zukommen zu lassen. Als gleichberechtigte politische Partner wären die Palästinenser immer noch nicht anerkannt worden.
Abermals wäre eine solche politische Halbherzigkeit, eine solche Leisetreterei ein tragischer Fehler gewesen. Denn eine grundlegende Wahrheit haben viele der Hauptakteure dieser Tragödie entweder nie erfasst, oder sie ist im Trubel der diplomatischen und militärischen Wirren untergegangen.
Diese Wahrheit hat der 2007 verstorbene Israelische Soziologe und Autor Baruch Kimmerling ausgesprochen. Sie lautet:
«Wer die Palästinenser als politisches Subjekt zerstört, zerstört auch Israel.»