US-Präsident Joe Bidens Reaktion auf den vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag gegen Wladimir Putin erlassenen Haftbefehl konnte etwa so erwartet werden: Das sei «gerechtfertigt» und «ein starkes Signal», sagte er. Auch die Regierung der Ukraine begrüsste die Entscheidung des ICC, mit der Putin und die russische Kommissarin für Kinder, Lvova-Belova, wegen der Deportation von ukrainischen Kindern nach Russland zur Rechenschaft gezogen werden sollen.
Allerdings: Weder die Ukraine noch die USA sind dem ICC beigetreten, d. h., sie haben das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 nicht unterzeichnet. Auch China, Israel, Indien, Saudi-Arabien und die Türkei haben das Statut entweder nicht unterschrieben oder nicht ratifiziert. Südafrika, Burundi und Gambia sind 2016 ausgetreten – und Russland, dessen Präsident jetzt angeklagt ist, ignoriert den ICC.
Putin darf niemals mehr nach Genf
So gerechtfertigt die Entscheidung des Gerichtshofs einerseits ist, so problematisch ist sie aus anderer Perspektive. Die Regierungen aller 123 Vertragsstaaten des Römer Statuts sind ab sofort verpflichtet, Putin, würde er je deren Territorium betreten, zu verhaften und nach den Haag auszuliefern. Die Schweiz also kann sich endgültig von der Idee verabschieden, irgendwann einmal als Vermittlerin im Konflikt Russland-Ukraine tätig zu werden – da würden auch Bekenntnisse zu einer orthodoxen Interpretation unserer Neutralität nichts mehr helfen, denn Putin darf niemals mehr nach Genf reisen.
Theoretisch kann er auch jene Länder nicht mehr besuchen, die mit Russland (eher der Not gehorchend als dem eigenen Trieb) einigermassen harmonische Beziehungen pflegen, die Staaten in Zentralasien. Theoretisch – denn im Fall eines Falls würde ja wohl weder Kasachstans Präsident Tokajew noch Emomali Rahmon, Staatschef Tadjikistans, um nur zwei Beispiele zu nennen, den Gast aus Moskau «in Ketten legen».
Symbolwert
Also, der Haftbefehl des ICC hat vorwiegend symbolischen Charakter – er soll unterstreichen, dass die internationale Gemeinschaft rechtsstaatliche Prinzipien kennt und darum bemüht ist, diesen Prinzipien im Rahmen des Möglichen Nachachtung zu verschaffen. So sieht das die überwiegende Mehrheit der westlichen Medien und auch der Politiker und Politikerinnen.
Aber wie präsentiert sich das denn aus der Perspektive der «übrigen Welt», also aus jener des Mittleren Ostens, Asiens, Afrikas, Lateinamerikas?
USA respektieren Entscheide des ICC nicht
Sehr anders auf jeden Fall. Die Reaktion von US-Präsident Biden («gerechtfertigt», «starkes Signal») dürfte nicht unberechtigter Kritik an der Haltung der Vereinigten Staaten im globalen Kontext neuen Auftrieb geben. Warum? Vor allem, weil die USA (Präsidentschaft von George W. Bush) hoch offiziell entschieden haben, keine Entscheidung des ICC zu respektieren. Washington verkündete, im Gegenteil, man würde jede Person, jeden US-Soldaten, der allenfalls in Den Haag festgehalten würde, notfalls auch mit militärischer Gewalt befreien.
2018, Präsidentschaft Donald Trump, erliessen die USA darüber hinaus auch noch ein Einreiseverbot für die Chefanklägerin des ICC, Fatou Bensouda. Auch weitere Verantwortliche des Gerichts mussten mit Sanktionen vonseiten der USA rechnen. Joe Biden hat die von Trump erlassenen Sanktionen zwar zurückgenommen, aber grundsätzlich hat seine Administration die Haltung gegenüber dem Gerichtshof in Den Haag in der Schwebe gelassen.
Ein Konflikt des «Westens»
Der so genannte globale Süden bleibt generell indifferent gegenüber dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zwar nicht immer in Worten (immerhin verurteilten bei der letzten Abstimmung in der Uno 141 Länder Russland im Zusammenhang mit dem Konflikt), wohl aber in Taten. An Sanktionen beteiligt sich kein Land Asiens, keines in Afrika, keines in Lateinamerika.
Engagiert haben sich lediglich die Mitglieder der Nato, die europäischen Neutralen, Japan, Südkorea, das nicht als eigenständig anerkannte Taiwan, Australien und Neuseeland – etwas mehr als 40 Länder von weltweit 195. Der Krieg (den alle möglichst schnell beendet sehen möchten, weil er die Preise für Lebensmittel und Energie in die Höhe getrieben hat) wird als Konflikt «des Westens» verstanden.
Das Image bleibt
Als Instrument dieses Westens gilt weit verbreitet auch der Internationale Gerichtshof, der ICC, in Den Haag. Daran änderte sich auch nichts durch die Tatsache, dass der ICC zwischen 2012 und 2021 eine Frau aus Gambia, Fatou Bensouda, als oberste Chefin hatte – und auch nichts, dass der jetzige Chefankläger, der Brite Karim Khan, einer pakistanischen Familie entstammt. Das Image bleibt, und es ändert sich, aus globaler Perspektive, auch dadurch nicht, dass der ICC jetzt den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, zur Verhaftung ausgeschrieben hat. Ändern würde sich das Image erst, wenn auch die westliche Führungsmacht USA sich konsequenter profilieren, d. h. konkret: sich dem Römer Statut des ICC anschliessen würde.