Am 5. Juni gelang den Milizen der Libyschen Regierung (GNA) die Einnahme der Kleinstadt Tarhūna knapp 95 km südöstliche von Tripolis. Hat Haftars Macht damit den Zenith überschritten?
Erfolg mit türkischer Unterstützung
Der Vorsitzende des libyschen Präsidialrats Fāyez al-Sarrāj nutzte seinen zeitgleichen Besuch in Ankara, wo er mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan konferierte, um klarzustellen, dass an einer politischen Lösung mit Haftar nicht zu denken sei. In einer gemeinsamen Pressekonferenz betonte al-Sarrāj, dass die Milizen seiner Regierung versuchen werden, die Kontrolle über das gesamte Land zu übernehmen und «alle Verbrecher vor Gericht zu bringen».
Al-Sarrāj machte keinen Hehl daraus, dass die militärischen Erfolge der türkischen Unterstützung zu verdanken seien. So sagte er, dass Libyen sich auf die Rückkehr türkischer Firmen, die an Infrastruktur- und Wiederaufbauprojekten in Libyen mitwirken werden, «freue». Die Türkei ihrerseits werde alles daransetzen, so Erdoğan, dass Haftar und die Tobruk-Regierung des «Repräsentantenhauses» das Erdöl nicht weiter vermarkten könne.
Mehrere Tausend Menschen sind zwischenzeitlich aus den Kampfgebieten südlich von Tripolis in Richtung Banī Walīd geflohen. Hierher haben sich auch die Angehörigen der russischen PMC-Wagner-Gruppe abgesetzt. Der Sprecher der LNA, al-Mismārī, bestätigte nur indirekt die Gebietsverluste und sprach von einem taktischen Rückzug. Ein «türkischer Vormarsch in Richtung Banī Walīd» sei zurückgeschlagen und der Ort Sūq al-Khamīs 40 km westlichen von Tarhūna sei zurückerobert worden. Die russische Regierung verknüpft den Erfolg der GNA-Milizen mit einer verstärkten Präsenz von Kämpfern der syrischen Levante-Befreiungsorganisation (HTS) aus Idlib.
Politik der Stämme
Sollten sich die Milizen der GNA in Tarhūna festsetzen können, so wäre das mehr als nur ein Prestigeerfolg. Von Tarhūna aus sind es nur noch knapp 100 km bis Banī Walīd, das seit Jahren unter der Kontrolle eines lokalen Stammesrats der Warfalla-Föderation steht. Dieser Föderation sollen etwa eine Million Landesbewohner angehören. Zusammen mit der zahlenmässig fast gleichstarken Magraha-Föderation sollen sie das Rückgrat des Gaddafi-Regimes gebildet haben.
Das Bündnis dieser beiden Föderationen mit Haftars Milizen entbehrt aufgrund ihrer früheren Loyalität zum Gaddafi-Regime nicht einer gewissen Logik. Allerdings gibt es Risse in dieser Allianz. Die Warfalla in Banī Walīd halten die Strasse nach Tarhūna besetzt und protestieren gegen Zwangsrekrutierungen durch Haftars Truppen. Zwar liessen sie jetzt die Wagner-Leute und die Sudanesen passieren, doch bedeutet dies noch nicht, dass sie die Allianz mit Haftar weiter wahren werden.
Es geht aber auch um Haftars Legitimität. Im Juli 2017 hatte Haftar den durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) wegen Kriegsverbrechen gesuchten Major der Saiqa-Spezialeinheiten, Mahmūd al-Warfallī, festsetzen lassen, doch zwei Jahre später tauchte dieser nach seiner Flucht aus dem Gewahrsam in Banī Walīd unter. Angeblich hat Haftar ihn sogar zum Oberstleutnant befördert. Die Zukunft von Haftars Allianz vor allem mit Frankreich hängt auch davon ab, ob er al-Warfallī an den ICC überstellen wird.
Etappensieg für Erdogan
Wer auch immer die Oberhand im südlichen Tripolitanien haben wird, die Türkei wird sich damit brüsten können, massgeblich die von der Uno anerkannte GNA-Regierung verteidigt zu haben. Das wird, so hofft man wohl in Ankara, ihre Position im Konflikt über die Absteckung der Claims auf dem Festlandssockel im östlichen Mittelmeer stärken.
Auch wenn das Memorandum of Understanding, das die türkische Regierung und die GNA bezüglich des Festlandsockels vereinbart hatten, von den USA als «nicht hilfreich-provokativ» und für Drittstaaten als nicht verbindlich angesehen wird, bedeutet jede Aufwertung der GNA für die Türkei einen Etappensieg im Konflikt um die Hegemonie über das östliche Mittelmeer.
Ankaras Position in der arabischen Welt
Entsprechend feiern nun die türkischen Medien den Einzug der GNA-Milizen in Tarhūna. Die Medien der arabischen Verbündeten von Haftars LNA hingegen lassen verlauten, dass es türkische Einheiten seien, die Tarhūna eingenommen hätten. Wie üblich verlagern sie damit den Konflikt aus Libyen auf eine regionalpolitische Ebene und betten ihn in den Konflikt zwischen den Golfstaaten und der Türkei ein.
Allerdings steht für die Türkei in Libyen mehr auf dem Spiel als für die Emirate, Saudi-Arabien oder Ägypten. Die GNA in Tripolis ist für die Türkei der vorletzte verbliebene Alliierte in der arabischen Welt. Noch 2012 hatte es so ausgesehen, dass die Türkei zum politischen, ökonomischen und kulturellen Modell einer sich grundlegend wandelnden arabischen Welt werden könnte. Einzig das Emirat Qatar hält der Türkei die Treue.
Arabismus statt Islamismus
Die «Allianz» von Saudi-Arabien, den VAE, Ägypten, Sudan sowie Khalīfa Haftars Libyen, die 2015/6 feste Formen angenommen hat und um deren strategische Ausrichtung Saudi-Arabien und die Emirate rivalisieren, hatte lange Zeit ihre Legitimität aus dem Kampf gegen den Terrorismus ultraislamischer Bünde gewonnen. Zwar war die Allianz tatsächlich im Jemen, in Libyen und Ägypten in Kämpfe gegen ultraislamische Bünde wie den «Islamischen Staat» oder al-Kaida verstrickt, doch politisch galt ihr Kampf vor allem den rechtspopulistischen Muslimbrüdern. Deren Bestreben, staatliche Souveränität über die Gesellschaft zu erlangen und hierzu den Islam als Steigbügel zu nutzen, empfanden die Golfstaaten als Meuterei.
Vor bald zehn Jahren gingen sie gegen die Islamisten in die Offensive. Sie finanzierten den Sturz des ägyptischen Präsidenten 2013, erklärten die Muslimbrüder und verbündete Gruppen zu «terroristischen Organisationen», die sich gegen den Nationalstaat verschworen hätten, griffen 2015 in den jemenitischen und 2017 in den libyschen Krieg ein.
Abkehr vom militanten Linksnationalismus
Rhetorisch wurde nun deutlich umgerüstet: an die Stelle eines islamischen Rechtfertigungsdiskurses, der Jahrzehnte die Herrschaftsordnung in den Golfländern zu verteidigen hatte, trat nun ein Arabismus, der die Trennung von Staat und Religion zu zementieren hatte. Es handelt sich dabei nicht um jenen militanten Linksnationalismus, der in den 1950er und 1960er Jahren zahllose arabische Monarchien zum Einsturz gebracht hatte, sondern um einen neuen Arabismus, der keine Gesellschaftsutopie mehr umfasst. Er ist nicht ideologisch, sondern gewinnt seine Legitimität allein aus der zentristischen Verteidigung des Staats und seiner Herrschaftsordnung.
Dieser Nationalismus ist restaurativ, insofern er den Staat vor einem neuen revolutionären Aufbegehren schützen will. Zugleich ermächtigt er den Staat, Patron eines Islam zu sein, der auf jede Machtbeteiligung verzichtet.
Nahöstliche Restauration
Die Restauration in nahöstlichen Ländern ist also weit mehr als eine konservative Politik der Machterhaltung. Hinzu kommt eine an das «Metternichsche System» erinnernde Interventionspolitik, die auf Interessensbündnissen beruht. Revolutionen und Revolten sollen dadurch verhindert werden, dass Allianzen schon im «Vorhof der Mächte» militärisch und polizeilich intervenieren dürfen. Als «Vorhöfe» gelten jene Länder, in denen die Meuterei schon weit um sich gegriffen hat und wo droht, dass diese auf die Restaurationsstaaten übergreifen.
Irans Vorhof und Saudi-Arabiens Vorhof
Der Irak gilt als Irans Vorhof, Jemen als der Saudi-Arabiens und Syrien als der der Türkei. Die nahöstlichen Regime sichern ihren Interventionismus durch aussenpolitische Allianzen ab. Diese garantieren die Möglichkeit, in anderen Staaten zu intervenieren, um frühzeitig den Funkenflug einer möglichen Rebellion gegen den Staat zu verhindern.
Hier erinnert manches an die Zeit der europäischen Restauration nach den napoleonischen Kriegen. Nur formierte sich im Nahen Osten nicht eine einzige «Heilige Allianz» und entstand nicht eine einheitliche Politik der Restauration, sondern es bildeten sich gleich drei Allianzen, die heute die Gesamtheit des Nahe Ostens beherrschen.
Trotz des tiefgreifenden Antagonismus stimmen die grossen Drei, Iran, Saudi-Arabien und Türkei, als Hegemoniemächte ihrer jeweiligen Allianzen im Gesamtziel überein: das Aufkommen einer «revolutionären» Stimmung zu verhindern. Für die meisten nahöstlichen Staaten war es zweckdienlich, einer dieser Allianzen beizutreten. Nur Kuwait und Oman haben versucht, Partnerschaften sowohl mit der türkischen als auch mit der saudischen Allianz zu schliessen.
Die Logik der Kriegsparteien
Auch die Kriegsparteien in den Konflikten in Syrien, Libyen und Jemen verfolgen eine Restaurationspolitik und unterwerfen sich dazu der Logik ihrer Allianzpartner. Im Kern konkurrieren sie um die Macht des Staats, den sie aber wie im Konsens als Repräsentation der Nation bestimmen. Der Staat ist also nicht notwendig auf bestehende soziale Realitäten bezogen. Wäre dies der Fall, wären die Kriege in diesen drei Ländern durch einen Prozess radikaler Dezentralisierung oder durch Sezession sozialer und geographischer Räume zu befrieden.
Doch die Kriegsparteien verlangen, dass die Untertanengemeinschaft dem Staat als Souverän und der Person, die sich als Vertreter dieser Souveränität bestimmt sieht, huldigt. In einer solchen Logik ist kein Platz für mehrere Potentaten.
Haftar und al-Sisis restaurative Ziele
Der neu entfachte türkische Nationalismus, der immer deutlicher den alten Islamismus der AKP überlagert, unterscheidet sich so nur interessenspolitisch von dem Arabismus der Golfstaaten. Wie dieser ist er Teil einer konservativen Restauration. Haftar in Libyen hat sich dieser Restauration ebenso verschrieben wie der ägyptische Präsident al-Sīsī.
Allerdings gelingt es Haftar nicht, die libysche Bevölkerung in einer Untertanengemeinschaft zu vereinen. Dem steht nicht nur die türkische «Heilige Allianz» entgegen, sondern vor allem die soziale Wirklichkeit einer auf Autonomie ausgerichteten Solidaritätsordnung der grossen Stammesföderationen. Immerhin hatte Haftar seit fast zwei Jahre geschickt an einem Bündnis mit den zwei grössten Föderationen im Land, den Warfalla und den Magraha, gestrickt und dabei manche Kompromisse machen müssen. Doch hat er es nie geschafft, die Söldnermilizen, vor allem Russen, Sudanesen und Leute aus dem Tschad, in einem solchen Allianzsystem zu integrieren.
Als vor einigen Wochen die Söldner aus den vordersten Linien vor Tripolis zurückgezogen wurden, kühlte sich auch die Allianz mit den Stammesföderationen ab. Damit gerieten die zwei tragenden Säulen von Haftars LNA in Schwanken. Umgestürzt sind sie noch nicht, aber allein schon das leichte Schwanken hat den Vormarsch der GNA-Milizen ermöglicht. Natürlich hat hierzu auch die robuste türkische Unterstützung beigetragen.
Wann kommt der nächste «Vormärz»?
Noch ist nicht erkennbar, ob und wenn ja, welche Auswirkungen der Rückzug der LNA auf die ziemlich filigrane Architektonik der nahöstlichen Restaurationsordnung hat. Da aber auch der Krieg in Libyen schon längst zu einem Streit um die Hegemonie in einer von allen Kriegsparteien erwünschten Restaurationsordnung mutiert ist, wird es zunächst zu keiner fundamentalen Änderung kommen.
Allein wenn sich wie im Jemen sezessionistische Kräfte durchsetzen, wird die Restaurationspolitik vor neuen Herausforderungen stehen. Die Restauration wird nur so lange gelingen, wie sie die Illusion einer vereinten Untertanengemeinschaft, auf die der Staat gründet, aufrechterhalten kann. Es mag daher sein, dass schon jetzt im nahöstlichen Untergrund ein «Vormärz» schlummert, der den Keim eines zweiten «Frühlings» in sich trägt.