An diesem 30.Juli wurden zwei Männer zu Grabe getragen, die wie eine gegensätzliche Verkörperung des indischen Muslims erscheinen. Kurz nach 14 Uhr wurde in Rameshwaram an der Südspitze Indiens Abdul Kalam zu Grabe getragen. Zum gleichen Zeitpunkt landete in Mumbai das Flugzeug mit den sterblichen Überresten von Yakub Memon, der noch am gleichen Tag in seiner Heimatstadt begraben wurde.
Ausser dieser zeitlichen Koinzidenz und der Tatsache, dass die Leichen nach islamischem Brauch beigesetzt wurden, waren Todesumstände und der Lebenshintergrund der Beiden beinahe diametral entgegengesetzt. Abdul Kalam erhielt, als ehemaliger Präsident der Republik, ein Staatsbegräbnis. Er war ein sehr beliebter Landesvater gewesen, ein Junggeselle, hinter dessen von Locken verziertem Gesicht sich ein Dichter verbarg – und ein Nuklearwissenschaftler, der Vater von Indiens Atomwaffen-Programm.
Gehängt
Zahlreiche Politiker und viele einfache Menschen hatten sich zum Begräbnis eingefunden. Nur die Medien begnügten sich mit dem obligaten Minimum an pietätvoller Berichterstattung. Ihr Interesse galt vielmehr dem anderen Toten. Das Gefängnis von Nagpur in Zentralindien stand seit Tagen unter einem medialen Belagerungszustand. An Yakub Memon, dem berühmtesten Insassen des Phansi Jail, wurde das Todesurteil vollzogen, nachdem die Richter – und der amtierende Staatspräsident Pranab Mukherjee – alle Gnadengesuche abgelehnt hatten. Kurz nach sechs Uhr morgens erfuhren Frühaufsteher im ganzen Land von den ausserhalb der Gefängnismauern postierten TV-Reportern, dass Memon soeben gehängt worden war.
Es ist unklar, ob die indische Regierung dramaturgisch eingegriffen hatte, um das Todesurteil genau am Tag zu vollstrecken, an dem auch der Ex-Staatspräsident zu Grabe getragen wurde. Es würde zum Stil des gewieften Regisseurs Narendra Modi durchaus passen – auch der Umstand, dass der 30. Juli Yakubs 53. Geburtstag war. Während dieses Detail nur eine giftige Bösartigkeit ist, konnte mit der Doppelbeisetzung der Verdacht gekontert werden, dass hinter dem Strang für Yakub Memon anti-muslimischer Revanchismus steckte: ‚Seht her, auch Abdul Kalam war ein Muslim, der von der BJP-Regierung auf den Präsidentenstuhl gehoben worden war!’.
Mob-Hysterie
Anhänger der Regierung betonen, diese habe alle Vorgaben des Obersten Gerichts bei der Vollstreckung von Todesurteilen strikt befolgt. Die Familie Memons war zwei Wochen zuvor in Kenntnis gesetzt worden, und bis spät in die Nacht vor dem 30. Juli waren die letzten Interventionen und Appelle vom Gericht angehört und abgewiesen worden. Es war ein Zufall, so Bundesanwalt Rohatgi, dass das Ende der rechtlichen Prozedur mit dem Bestattungstermin für Abdul Kalam zusammenfiel
Kritische Beobachter weisen allerdings auf den orchestrierten Sturm in der Social Media-Szene von Twitter und Facebook hin, der Wochen zuvor begonnen hatte. Deren Potential für politische Stimmungsmache ist von den Parteistrategen der BJP schon früher effektvoll genutzt worden. In den letzten Wochen erreichten Kampagnen wie #SeeYouInHellYakub eine Intensität, die immer mehr einer Lynch-Justiz glich. Die Regierung tat nichts, um diese wachsende Mob-Hysterie zu bremsen – im Gegenteil, immer wieder verwiesen Minister auf die Rolle Yakubs und der Memon-Familie bei den Terrorakten, die zum Todesurteil geführt hatten.
Nicht gehaltenes Versprechen
Es ging um die dreizehn Bombenanschläge, die am 12. März 1993 innerhalb einer halben Stunde im Zentrum von Mumbai 350 Menschen das Leben gekostet hatten. Es war ein Racheakt für die anti-muslimischen Pogrome, die im Gefolge der Zerstörung der Babar-Moschee im Dezember und Januar zuvor in Mumbai verübt worden waren. Die Polizei war damals rasch auf die zentrale Rolle des Schmugglers Tiger Memon und seines Bosses Dawood Ibrahim aufmerksam geworden. Ibrahim hatte sich schon zuvor der indischen Justiz entzogen und genoss in Karachi den Schutz des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Noch in der Nacht des 12. März gelang es Tiger Memon, sich nach Dubai abzusetzen. Seine Familienangehörigen (einschliesslich Yakubs) hatte er bereits zuvor ins Ausland geschickt.
Doch bereits einige Monate später, so schrieb der (inzwischen verstorbene) Geheimdienst-Offizier B.Raman in einem bisher unveröffentlichten Bericht von 2007, habe es Informationen gegeben, dass Yakub nach Indien zurückkehren wollte. Ramans Leute trafen sich mit Memon in Kathmandu und überzeugten ihn, sich der indischen Justiz zu stellen – gegen das Versprechen, dass ihm ein Todesurteil erspart würde. Im August 1994 wurde er in Delhi verhaftet.
Zweifel an seiner zentralen Rolle
Dieser Geheimdienst-Bericht lag dem Gericht allerdings nie vor, obwohl der Staatsanwalt zweifellos davon Kenntnis hatte. Nach vierzehn Jahren Justizverfahren wurde Memon 2007 wegen Mittäterschaft zum Tod verurteilt, zusammen mit den Hauptangeklagten Tiger Memon und Dawood Ibrahim. Auch wenn die Öffentlichkeit den Hintergrund von Yakubs Verhaftung nicht kannte, gab es von Anfang starke Zweifel an seiner zentralen Rolle. Vor Gericht gab der frühere erfolgreiche Buchprüfer nur zu, von den Schmuggelaktivitäten seines Bruders Kenntnis gehabt zu haben; er betonte immer wieder, dass er nach Indien zurückgekehrt sei, um seinen Namen zu klären.
Dass das Urteil acht Jahre lang nicht vollstreckt wurde, weist darauf hin, dass auch der Staat Zweifel an der Schwere der Schuld Memons hatte. Dies umso mehr, als das Anti-Terrorgesetz, unter dem er verurteilt wurde, wegen schwerer Mängel inzwischen aufgehoben worden ist. Es gab also auch für die neue BJP-Regierung kein Grund, das Verfahren zur Urteilsvollstreckung neu aufzunehmen und medial aufzuheizen – es sei denn, sie hatte politische Motive.
Diskussion um die Todesstrafe
Eines davon mag mit der Diskussion um die Todesstrafe zusammenhängen. Indien gehört zu jenen demokratischen Ländern, in denen sich die Diskussion um deren Abschaffung belebt hat, nicht zuletzt dank dem Druck europäischer Staaten – darunter der Schweiz. Zudem weiss man, dass viele Angeklagte nur dank fehlender Verteidigung in den Todeszellen landen; eine grosse Mehrheit der Verurteilten sind arme schreibunkundige Dalits und Muslime. Ein Indiz für das verbreitete Unbehagen gegenüber der Legitimität dieser rabiaten Strafmethode ist die Tatsache, dass die Gefängnisse über 1300 Häftlinge in der Death Row halten, aber in den letzten zehn Jahren nur drei Todesurteile vollstreckt wurden.
Dieser zunehmenden Abneigung gegen die Todesstrafe will die nationalistische Regierung von Narendra Modi offenbar entgegenwirken, um Entschlossenheit im Anti-Terror-Kampf zu demonstrieren. Es ist eine ideale Plattform, um kollektive Ängste mit dem Appell an archaische Rachegefühle zu mildern. Und was gibt es Besseres für die grosse Hindu-Mehrheit unter den Wählern, als diese Gefühle mit dem Muslim-Gespenst (und realen Terroranschlägen wie jenen von Mumbai) zu assoziieren.
Zwei religionspolitische Ellen
Auch die Koppelung der Hinrichtung mit dem ehrenvollen Begräbnis von Abdul Kalam kann so gelesen werden, dass hier eine Dichotomie zwischen ‚guten’ und ‚bösen’ Muslimen hergestellt werden soll. Staatspräsident Kalam war es gewesen, der im indischen Parlament ein Bild von Veer Savarkar enthüllte hatte, obwohl er wissen musste, dass Savarkar zum Kreis der Attentäter von Mahatma Gandhi gehört hatte. Und er wusste wohl auch, dass Indiens Justiz gerade bei Terrorakten mit zwei religionspolitischen Ellen misst.