Noch produziert und erwirbt das ZDF die Sendungen eigenverantwortlich und verbreitet sie wie bisher nach einem straffen Programmplan für die konventionelle Nutzung am Fernsehgerät. Gleichzeitig und ohne besondere Gebühren bietet das ZDF seit einigen Tagen über Smartphone, Tablet, Laptop und Smart TV den Zugriff auf eine neugestaltete und benutzerfreundliche Mediathek. Sie umfasst gegenwärtig 30'000 frühere und aktuelle Sendungen, teils auch solche, die erst später ausgestrahlt werden.
Das Publikum schaltet und waltet autonom
Die unter www.zdf.de oder mit einer App erreichbare Mediathek ermöglicht es, die Sendungen anzuschauen, zu beurteilen, zu speichern und mit Freunden zu teilen, massgeschneiderte Empfehlungen für die eigenen Favoriten anzufordern sowie Filme und Serien im fremdsprachigen Original mit Untertiteln zu empfangen. Irgendwann und irgendwo. Gesteuert vom eigenen Tagesablauf und den eigenen Vorlieben.
Mit dieser Mediathek, der umwälzendsten Neuerung seit der Fernbedienung vor 60 Jahren, passt sich das ZDF den veränderten Sehgewohnheiten an. Die Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer wächst enorm, die das TV-Programm auf ihren mobilen Geräten empfangen und es schätzen, nicht mehr an die Fixzeiten der Ausstrahlungen gebunden zu sein.
Die Selbstbestimmung entwickelt sich in einem Umfang, der das Publikum mit programmdirektorialen Funktionen ausstattet – oder doch dieses Gefühl vermittelt.
Schlaraffischer Selbstbedienungsladen
Die Stunden vor dem Bildschirm im trauten Halbkreis der Familie, artig begrüsst von Ansagerinnen und von ihnen charmant durch den Abend begleitet, sind längst Geschichte.
Jetzt verabschieden wir uns auch vom Angebot, das die Fernsehanstalten für uns nach den Regeln des bunten Abends besten Gewissens, abwechslungsreich und mit steigender Rücksichtnahme auf die Einschaltquoten organisierten, beginnend mit mehrheitsfähigen Programmen und spät in der Nacht endend mit Konzessionen an die Minderheiten.
Wir sind vom ärgerlichen Warten auf die bevorzugte Sendung erlöst. Das konsekutive, von einer starren Zeitachse bewegte Fernsehen verwandelt sich in einen schlaraffischen Selbstbedienungsladen. Er beschert den Zappern das erträumte Glück der völligen Wahlfreiheit.
Der gläserne Zuschauer
Die Nutzung der Mediathek ist kostenlos und hat gleichwohl ihren Preis. Das Publikum liefert dem ZDF in grossen Mengen immer detailliertere und präzisere Daten zu den Sehgewohnheiten. Auf den gläsernen Zuschauer wird der Sender seinerseits ausgefeilt und punktgenau reagieren.
Um beim Selbstbedienungsladen zu bleiben: Was eine zu geringe Nachfrage findet, fliegt aus dem Regal oder wird auf die Kundenwünsche abgestimmt produziert. Das wäre mit einem aufs Achselzucken beschränkten Protest hinzunehmen, hätten die Programme nur Warencharakter.
Schwächung der publizistischen Verantwortung
Das ist zumindest bei den öffentlichrechtlichen Sendern nicht durchwegs der Fall. Sie tragen eine publizistische Verantwortung im gesellschaftlichen Interesse. Die Redaktionen setzen mit ihrer Fähigkeit, Ereignisse einzuordnen und zu bewerten, vertiefende Akzente.
Über den Tag hinaus wichtige Themen werden gegen den Mainstream umfassend und seriös beleuchtet. Je anschaulicher dies gelingt, desto breiter ist die Resonanz auch bei einem Publikum, das eher zum Vordergründigen als zum Hintergründigen neigt. Diese Wirkung wird künftig schwerer zu erzielen sein.
Die Mediathek ist ein Instrument, das die Sendungen gnadenlos nach ihrer Beliebtheit misst und den Mehrheiten auf Punkt und Komma die stärkeren Argumente liefert als den Minderheiten. Die nach Alter, Geschlecht und Beruf sowie nach der Zahl der Weiterempfehlungen und dem Zeitpunkt des Programmkonsums exakt differenzierbaren Einschaltquoten fördern bei den Sendern das quantitative Denken und Handeln zulasten des qualitativen.
Siegeszug für den Wurm
Diese Entwicklung beschleunigt sich, weil weitere Sender zur Mediathek wechseln werden. Wer sich dazu entschliesst, verliert seine Identität. Das Publikum sucht bestimmte Sendungen unbekümmert darum, woher das Angebot stammt.
Im zynischen Diktum vom Wurm an der Angel, der dem Fisch und nicht dem Fischer schmecken muss, steckt das künftig allgemein akzeptierte Leitprinzip für die Fernseh- und wohl auch für die Radiosender.
Dem Service public stehen harte Bewährungsproben bevor. Er droht ausgerechnet abgeschafft zu werden von den zu Programmchefs avancierten Zuschauerinnen und Zuschauern. Sie mögen sich heute als Direktoren fühlen und blicken vielleicht schon morgen als Liquidatoren in die Röhre und auf ihre Mini-Monitoren. YouTube übernimmt.