Das Gewerbemuseum Winterthur versucht eine Ehrenrettung. Es würdigt gestalterisch starke und emanzipatorisch benachteiligte Frauen mit einer Ausstellung und einem vielfältigen Rahmenprogramm. Zwar nicht der Zeit vorauseilend, aber nicht zu spät.
Erneuernd und bahnbrechend
Frauen prägten seit Beginn des 20. Jahrhunderts Design und Architektur. Erneuernd und bahnbrechend. Sie blieben im Schatten der Männer. Ungerechterweise von Anfang an. War es duldsames Ausharren, patriarchalische Ausbeutung, bezweifelte Dringlichkeit des Ausgleichs? Alles.
Die von Susanna Graner kuratierte, vom Vitra Design Museum entwickelte und vom Gewerbemuseum ergänzte Ausstellung zeigt schönste von Frauen entworfene Objekte, Stoffe, Möbel, Häuser und Alltagsgegenstände in einer luftigen Inszenierung im hellen Licht. Das Auge strahlt.
Die auf Schrifttafeln erklärten Bezüge zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel, der die Frauenrechte beförderte, verlangen der Lese-Bereitschaft einiges ab. Der Kopf raucht.
Informationen in Hülle und Fülle
Die Ausstellung will erdrückend viel. Die Erinnerung an die Geschichte der Frauenbewegung wecken, die Verbindung zu den Designerinnen im Sozialismus beleuchten, eine Antwort finden auf die Frage nach der geschlechtersensiblen Gestaltung, eine Auseinandersetzung mit dem Diktum Simone de Beauvoirs «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es», ein Reflektieren über Diversität und Verhütung von morgen.
Too much. Der Ausstellungstitel «The Bigger Picture» lässt spontan an den gleichnamigen Protestsong von Lil Baby denken, meint jedoch die Unerbittlichkeit, die Thematik aus allen Perspektiven und unter allen Aspekten zu behandeln, «quite a mouthful».
Vereinnahmungen
Die heisshungrige Suche nach Fakten, Thesen und Drittwirkungen hätte im Interesse der Sache und des Publikums gezügelt werden sollen. Dienlich wäre auch ein aussagekräftiger Titel gewesen. Vielleicht auf Deutsch. Das sind die minderen Einwände.
Der erheblichere Einspruch lautet, dass die Designerinnen und Architektinnen für eine zeitgeistige Genderdebatte instrumentalisiert worden sind. Die konzeptionellen, künstlerischen, klugen Meisterleistungen von Frauen werden nur insofern anerkannt, als sie emanzipatorisch von Belang waren.
Das ist ein Verständnis von schöpferischer Qualität und Gleichberechtigung, von dem wir glaubten – und wenn nicht glaubten, dann glaubten hoffen zu können –, es sei in die hinterste Ecke der Vorurteile entsorgt worden.
Lux Guyer beispielsweise war eine herausragende Architektin der klassischen Moderne, und zwar völlig unabhängig von ihrer Wohnkolonie für alleinstehende Frauen. Trix Haussmann erhielt den «Grand Prix Design» des Bundesamtes für Kultur und die Ehrenmitgliedschaft des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten für ihr Werk und nicht für das frauenrechtskämpferisch schlagende Herz. Die Liste der Vereinnahmten ist verlängerbar.
Übersoll als Pflicht?
Die Ausstellung sendet das falsche Signal, dass Frauen bis heute ein bekenntnishaftes Übersoll erbringen müssen, um als gleichwertig zu gelten. Davon steht in den Menschenrechten kein Wort.
Fürs Lob, den Respekt, die Hochachtung müssten doch innovative Durchbrüche, geniale Würfe und avantgardistische Glanzstücke genügen. Noch höhere Ansprüche für Frauen sind alte Zöpfe, genauer: alte Rauschebärte.
Gewerbemuseum Winterthur, The Bigger Picture: Design – Frauen – Gesellschaft, bis 14. Mai 2023, www.gewerbemuseum.ch