Bringt einen eine Reise nach New York, schaut man sich wahrscheinlich in den spektakulären Kunstmuseen um – und dazu braucht man wahrhaftig keine Anleitungen, keine Führungen, eigentlich auch keine Hilfsgeräte. Die Bilder wirken ohne all das am stärksten. Begibt man sich aber an die Lower East Side, um sich im und um das Tenement Museum herum über New Yorks Einwanderungsgeschichte zu informieren, wirkt ein begleiteter Rundgang durch eine der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Mietskasernen inspirierend. Wenn man die richtige Führerin hat.
Diejenige, die uns kürzlich durchs Gebäude lotste, war eine resolute Amerikanerin irischen Ursprungs, was sich einerseits, wie sie sagte, in vielem und schnellem Reden niederschlage (man möge sie, bitteschön, jederzeit unterbrechen) und anderseits zu einem selbstverständlichen und innigen Bezug zum Thema - deutsche, italienische, jüdische und eben auch irische Immigration - führe. Was Mrs. M. dann eine Stunde lang bot, war eine sinnliche, eine prallvolle Geschichtsstunde, die uns den knallharten Alltag damaliger Immigranten drastisch vor Augen führte. Man sah, man roch, man spürte förmlich eine 150 Jahre alte „Gegenwart“. Die Geschichtsvermittlerin hatte sich eine nordamerikanische Tugend zu eigen gemacht – die Dinge so einfach und so anschaulich wie nur möglich darzustellen -, hütete sich indessen vor billigen Simplifizierungen, kannte keinerlei Tabus, wusste auf jede Frage eine passende Antwort. Steht man nach einer Stunde wieder auf der Orchard Street, eingehüllt in betäubenden Baulärm (Begleitmusik einer Entwicklung, die, auch hier, aus einem alten New Yorker Quartier ein neues, schickes, teures macht), kommt einem das irisch-deutsche Immigranten-Haus wie ein Findling vor, fremd gewordenes Gestein aus nebulösen Zeiten. Eine Stunde lang zum Leben erweckt.
Brechts letzte Jahre
Die jungen Regisseurinnen und Regisseure lassen ihn heute meistens links (wirklich links!) liegen, seine Stücke wirken zu sperrig, zu didaktisch auf sie, seine Theatertheorien halten sie für Schnee von gestern; Bertold Brecht bleibt trotzdem einer der Leuchttürme moderner Theatergeschichte und flaniert man durch Berlin, kommt man in seine Gegend, hat man sich vielleicht eine Aufführung am Berliner Ensemble angeschaut, lohnt sich ein Besuch seiner letzten Wohnung an der Chausseestrasse 126, ganz nahe am Theater. Gewohnt hat er dort während drei Jahren bis zum Tod 1956, teils mit, teils neben seiner Lebenspartnerin Helene Weigel. Man bewegt sich, treppauf treppab, durch die paar Zimmer, trifft nichts Luxuriöses, nichts Aussergewöhnliches an, nüchterne Arbeitsatmosphäre bei ihm, eine zusätzliche elegante und geschmackvolle Note im Mobiliar und Geschirr bei ihr.
Und wieder ist es die junge Führerin, eine Brecht/Weigel-Spezialistin, die aus dem Angeschauten eine Geschichte macht. Sie setzt die beiden berühmten Bewohner auf Sessel, lässt sie reden und träumen , Pläne schmieden, müde werden, leiden. Sie kennt und nennt die Bücher, die sie lesen, begleitet sie ins Theater, wo er den mitunter reizbaren Regieboss gibt, sie die herumdirigierte Schauspielerin. Dann geht es zurück in die Wohnung, den intimeren Rahmen, wo die Verhältnisse nicht so sein müssen wie im Theater. Starke Persönlichkeiten sind sie beide – da fliegen manchmal die Fetzen. Brechts Diskutierstil, mit Fremden, mit Freunden, wird en passant erläutert - da kommt auch Max Frisch kurz ins Spiel -, und dann ist wieder Helene Weigel dran, die sich in die Rolle der liebenswürdige Gastgeberin keineswegs zwingen muss. Von der Wohnung ins Theater, vom Theater in die Wohnung und ein paar Schritte weiter zum Dorotheenstädtischen Friedhof, wo Brecht, Weigel und eine ganze Reihe deutscher Geistesgrössen begraben sind – es ist als hätten die eben gehörten Erzählungen in der Brecht-Wohnung eine ganze Berliner Kulturgeschichte angeschoben, die sich jetzt mächtig in Erinnerung bringt.
Bei Montaigne im Turm
In der schönen Dordogne, etwa 60 Kilometer von Bordeaux entfernt, befindet sich ein veritables Märchenschloss aus dem 16. Jahrhundert. Lange Zeit im Besitz der Familie Montaigne. Der Verfasser der „Essais“ hat es bewohnt und bewirtschaftet. Ein dreistöckiger Turm gehört zum Anwesen. Zuoberst hatte Michel de Montaigne seine für damalige Zeiten beeindruckende Bibliothek, die an die 1000 Bücher umfasste, installiert. Man kann sich dort umsehen und wird, wenn einem das Schicksal gnädig ist, dem Geist des ersten modernen Essayisten der Literaturgeschichte begegnen. Das Schicksal erschien mir, als ich vor ein paar Jahren am Fuss des Turms ankam, in Gestalt einer schwungvollen Führerin, die es verstand, in einem hocheleganten Französisch den kleinen Mann mit dem grossen Werk im Turmzimmer agieren zu lassen. Diplomat, Politiker, Gerichtsbeamter war er ja auch noch, der mittelalterliche Schlossherr, ein geschätzter Berater des Königs, der sich als solcher auf langwierige, mühselige Reisen (zu Pferd) begeben musste, nach Paris, nach Italien; oder es sprengte eines Abends ein müder Reiter ins Schloss und kündigte Besuch an. Der König werde ihn, Montaigne, beehren. Mit gewaltigem Tross. Nächstens. Unterkünfte müssten bereit gestellt, Nahrung herbeigeschafft und für angemessene Unterhaltung gesorgt werden.
Es gibt eine nicht nur in Fachkreisen hochgelobte relativ junge Tradition französischer Geschichtswissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, vergangene Zeiten möglichst plastisch aufzuarbeiten, die Geschichte in Geschichten, das Abstrakte, die Ideen im gelebten Alltag abzubilden. Die schwungvolle Dame auf Schloss Montaigne muss eine Adeptin dieser Methode gewesen sein. Jedenfalls gelang es ihr vortrefflich, die Einzigartigkeit der „Essais“, die Vielfalt der Themen, das Verbindende in ihnen, den für die Zeit neuartigen persönlichen Stil, die Referenzen, Hintergründe aus der anstrengenden Lebenspraxis Montaignes zu entwickeln und so als Resultat einer produktiven Hin- und Herbewegung zwischen Schloss und Turm zu verstehen. Mir ist Montaigne einer der liebsten und treuesten Lebensbegleiter – man kann ihn immer wieder lesen. Seit dem Besuch im Turm und den begleitenden eloquenten Kommentaren, hat er eine zusätzliche Dimension erhalten. Es kommt mir vor, als sei er jetzt geerdet.