Die Wintermonate sind Indiens touristische Hauptsaison, und die Jagd auf Fotosujets läuft auf vollen Touren. Manchmal kommen Freunde auch bei uns vorbei – zum Ausruhen und nicht um uns Eingeborene abzulichten – und präsentieren die Ausbeute ihrer Schnappschüsse. Und zum ersten Mal nach Jahren hören wir wieder Geschichten von Tiger-Begegnungen und sehen die fotografischen Beweise.
70 Prozent aller Tiger leben in Indien
Manchmal sind die Begegnungen nur akustischer Art, etwa jene aus dem Geddai-Tal in den Nilgiri-Hügeln. Aber das ‚nur’ verdient Anführungsstriche, denn der Paarungsruf eines Männchens ging unseren Freunden durch Mark und Bein, wohl auch, weil es ein Tier auf freier Wildbahn war. Die Begegnungen aus der relativen Sicherheit eines offenen Jeeps in einem Reservat verursachen dagegen schlimmstenfalls einen leichten Schauer, gerade wenn sie alltäglich werden. Im Kanha-Nationalpark in Zentralindien sahen Freunde jeden Tag Tiger, und im kleinen Bandavgarh-Park soll die Population inzwischen auf 29 Exemplare gestiegen sein.
Weltweit leben siebzig Prozent aller Tiger – bzw. der wichtigsten Subpezies Panthera tigris tigris - in Indien. Ein Aussterben wäre damit praktisch das Ende der Spezies. Als vor zehn Jahren bekannt wurde, dass alle 25 Tiger im Sariska-Nationalpark von Wilderern ausgerottet worden waren, war dies ein Alarmsignal. Eine Zählung der gesamten Tiger-Population – zum ersten Mal nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt – ergab 2006, dass ihre Zahl auf 1411 Tiere gesunken war, weit weniger als die offizielle Zahl. Es war ein Schock, der weit über den Kreis von Tierschützern hinausging. Die Tatsache, dass 25 Tiger praktisch unter den Augen der Schutzbehörde – Sariska liegt nur drei Autostunden von Delhi entfernt – gewildert worden waren, empörte weite Teile der Bevölkerung.
Grösster Umschlagplatz für Wilderer-Beuten
Die Regierung sah sich endlich zum Handeln gezwungen. Das Tierschutzgesetz wurde verschärft, Wilderer müssen nun mit hohen Haftstrafen rechnen, ebenso wie Händler und Schmuggler. Zum ersten Mal wurden NGOs eingeladen, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, um dem Schmuggel von Fellen und Organen, Zähnen und Klauen das Handwerk zu legen. Vertretern der ‚Wildlife Society of India’ gelang es, die Routen der Schmuggler – sie liefen alle über Tibet in die Grossstädte Chinas – auszukundschaften. Lhasa erwies sich als grösster Umschlagsplatz, und die fotografische Evidenz ganzer Stapel von Tigerfellen wurde den chinesischen Behörden übermittelt, die sich bisher taub gestellt hatten.
Die bisher lückenhafte Zählweise von Tigern wurde durch moderne Methoden – Fotografie, DNA-Analysen, Kotproben – so stark verbessert, dass Falschangaben korrupter Wildhüter enttarnt werden konnten. Vorallem aber wurde das Management der Pufferzonen um die Wildparks verbessert. Mit grosszügigen Kompensationszahlungen und Realersatz gelang es, viele Dörfer am Rand der 47 Tiger-Reservate zur Umsiedlung zu überreden.
Zunahme der Population um 60 Prozent
Erstmals wurde auch den Korridoren zwischen Wildparks grössere Beachtung geschenkt. Zwar gelang es bisher nicht, sie rechtlich als ‚ökosensible Zonen’ zu verankern und damit vor industrieller Nutzung zu schützen. Aber immerhin geniessen sie nun Forstschutz und entwickeln sich allmählich wieder zu zusammenhängenden Waldgebieten. Trotz Kritik aus Schutzkreisen wurden auch Umsiedlungen von Tigern vorgenommen; in Sariska etwa wurden vier Tiger aus dem nahen Ranthambore-Reservat ausgesetzt.
Mit Spannung wurden daher die Resultate einer umfassenden Bevölkerungszählung erwartet, die im letzten Jahr durchgeführt wurde. Sie verblüfften selbst die Spezialisten. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Tiger-Population auf 2226 Tiere, eine Zunahme um beinahe 60 Prozent. Die Zunahme wurde in allen Tiger-Reservaten der vier grossen Schutzregionen registriert, dem Himalaya-Vorgebirge, der Hügelregion der Western Ghats im Süden, sowie Zentral- und Nordost-Indien.
Sorge um Überpopulation
Die grösste Zahl lebt in den zusammenhängenden Wildparks von Bandipur, Nagarhole und Mudumalai im Grenzgebiet von Karnataka, Kerala und Tamil Nadu, wo sich die Population von 402 auf 776 beinahe verdoppelte. In Sariska gedieh der Nachwuchs der vier umgesiedelten Tiere auf zwölf Exemplare. Insgesamt wurden nicht weniger als 1540 Tiere fotografiert. Rund zehntausend Kameras kamen zum Einsatz.
Der Anstieg ist derart, dass die Angst vor einer vollständigen Ausrottung nun zur Sorge um eine Überbevölkerung wird. Zwar deckt das gesamte Schutzgebiet mit einer Tigerbevölkerung eine Fläche von knapp 400'000 qkm. ab. Aber bei weitem nicht alle Reservate weisen optimale Bedingungen auf – in Bezug auf Nahrungsbasis, Wasserstellen und natürliche Deckung. Neue Korridore zu Wildparks, die nicht zu den Tiger-Reservaten zählen, sind erst im Entstehen begriffen. Nur mit ihnen ergibt sich eine Ausdehnungsfläche, die die genetische Diversität absichert (der Bewegungsraum eines erwachsenen Tigers wird auf über 300 qkm. geschätzt).
Angst vor „Man Eaters“
Je mehr die Tiere ihren Radius auf die Pufferzonen und darüberhinaus ausdehnen, desto häufiger kommt es zu Konflikten mit menschlichen Siedlungen. Um den Corbett-Nationalpark am dichtbevölkerten Fuss des Himalaya ist es in den letzten Jahren zu immer häufigeren Angriffen auf Menschen gekommen; mehrere Tiere entwickelten sich zu regelrechten ‚Man Eaters’. Dies birgt die Gefahr, dass in den Dorfgemeinschaften Angst und Feindschaft gegenüber den Tieren wieder steigt; und dies macht sie empfänglich für die Lockrufe von Wilderern und Händlern, denn mit dem erhöhten Straf-Risiko sind auch die Schwarzmarktangebote gestiegen. Noch immer liegt die geschätzte Zahl von gewilderten Tigern für die letzten fünf Jahre bei über 400.
Tiger-Experten sind der Meinung, dass ein weiteres Wachstumspotential von 1000 bis 1500 Tieren besteht. Aber dies hängt davon ab, ob der Staat bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen, in Form von Verzicht auf industrielle Entwicklung, einschliesslich Strassen, Bahnen und Starkstromleitungen. Diesbezüglich zeigt die neue Regierung bedeutend weniger Verständnis, wenn man deren ersten umweltpolitischen Massnahmen und Äusserungen als Indiz wertet.
Spagat zwischen Wirtschaftsentwicklung und Tiger-Schutz
Bei seinen Tiraden gegen die übermässige Regulierungswut seines Vorgängers bezieht Premierminister Narendra Modi auch den Umweltschutz ein. Er ist nur solange unantastbar, als er den wirtschaftlichen Entwicklungsbedarf nicht zurückbindet. Neutrale Beobachter vermuten, dass weite Teile der Bevölkerung ähnlich denken. Gewiss sind ihm die Sympathien der Wirtschaftsverbände. Dies trifft gerade auf die Bodenschätze zu, und diese befinden sich in den dünnbesiedelten und waldreichen Regionen – den Rückzugsgebieten vieler Tierarten. Bereits haben einzelne Wirtschaftsvertreter gefordert, die Schutzbestimmungen für Pufferzonen zu lockern.
Es war symptomatisch, dass der neue Umweltminister Prakash Javadekar bei der Präsentation der neuen Bevölkerungszahlen den Spagat zwischen Entwicklung und Schutz auf seine Weise vollzog. Er sei stolz darüber, die drohende Ausrottung nicht nur verhindert, sondern in eine Erfolgsstory verwandelt zu haben. Der Ausweg aus dem ‚vielversprechenden’ weiteren Wachstum der Tigerpopulation lag für ihn aber anscheinend nicht in einer Stärkung und Erweiterung der Schutzgebiete. Er will das Dilemma mit einer PR-Aktion lösen. Indien sei bereit, seine Schlüsselrolle im globalen Tier- und Tigerschutz wahrzunehmen. Wie? Indem es anderen Ländern Tiger-Babies verschenkt.