Bauchspeicheldrüsenkrebs. Laut Wikipedia unter allen Krebsen einer der bösartigsten, wenn nicht überhaupt der bösartigste. Die Gattin des Freundes hatte ihm und allen andern Freunden per E-Mail mitgeteilt, ihr Mann sei schwer erkrankt und werde vermutlich nicht mehr lange leben. Was heißt nicht mehr lange? Und was antwortet man darauf? „Ich wünsche dir gute Besserung“? Oder: „Ich wünsche dir ein sanftes Sterben.“?
Zwei Monate später erhielt Sormann – so wie alle andern Freunde – eine vom Erkrankten selber geschriebene Mitteilung folgenden Wortlauts:
„Liebe Freunde, es bleiben mir nur noch ein paar Tage zu leben übrig. Das lässt sich leider nicht ändern. Da möchte ich mich von Euch allen verabschieden. Die Freundschaft von jedem von Euch war mir lieb, wichtig und hat mich menschlich bereichert. Dafür möchte ich Euch danken. Wenn der eine oder andere gelegentlich an mich zurückdenkt, wird mich das zwar nicht mehr freuen können, aber mir wenigstens ein klein wenig Weiterleben im Geiste bescheren. Und damit sage ich adieu, ciao, lebt wohl und genießet das Leben. Rolf Bremmer.
Sormann antwortete: „Lieber Rolf, da es ans Abschied nehmen geht, möchte auch ich Dir für Deine Freundschaft danken. Wir wuchsen im gleichen Haus zusammen auf, Du zwei Stockwerke über unserer Wohnung. Wir gingen zusammen zur Schule, studierten beide Physik, arbeiteten eine Weile beim gleichen Arbeitgeber, bis Du nach Brasilien gingst. Später, als Rentner machten wir manchmal mit unserer Familie gemeinsam Ferien. Ich war gerne mit Dir zusammen, schätzte Deinen trockenen Humor, mit dem du oft sinnlosen Diskusionen ein Ende bereitetest. Ich bin traurig, dass du uns verlässt, und ich kann Dir nichts anderes wünschen als ein sanftes, schmerzloses Sterben. Gustav.
P.S. Falls Du drüben einen Briefkasten siehst, schick mir eine Postkarte.“
6 Tage später starb der Freund. Sormann schickte seiner Frau ein Beileidschreiben, wofür sie einen Monat später dankte und ein P.S. mit der Frage hinzufügte: „Hast du schon eine Postkarte erhalten?“
Briefkasten gibt es also auf jeden Fall keine, sagte sich Sormann nach einem Schluck Bier. Er glaubte ohnehin nicht an ein Leben nach dem Tode, hatte nie daran geglaubt, ärgerte sich auch immer über die Euphemismen, mit denen Hinterbliebene sich den Verlust erträglicher zu machen versuchen. „Ich habe meinen Mann/meine Frau verloren,“ sagen die Leute. Jedesmal, wenn Sormann dies hörte, fühlte er sich versucht zu sagen: „Ich hoffe, Sie finden ihn wieder.“
War er herzlos, fragte er sich, gefühlsroh, kalt, gleichgültig dem Leid anderer gegenüber, jeglichen Mitleidens unfähig? Und er fragte sich weiter, wie er sich in ähnlicher Lage verhalten würde, etwa beim Sterben eines seiner Kinder. Würde er Mitleid von andern erhoffen?
Als seine Eltern starben, war er 50 Jahre alt. Er empfand ihren Tod als normal. Er war traurig, gewiss, aber sein Auge brachte keine Träne hervor, als der Sarg mit seiner Mutter in das Grab gesenkt wurde und er ihr einige Schaufeln Erde nachschickte. Das Sterben alter Menschen erschien ihm als ein unabwendbarer Bestandteil des Lebens.
Der Tod – was hat es denn damit auf sich? Ohne Tod würde es kein Leben geben. Genau so wenig wie ohne Geburt. Man stirbt nur, wenn man gelebt hat. Ist das ein zu hoher Preis? Nur Undankbare denken so. Sormann trank den letzten Schluck Bier aus seinem Glas, bezahlte und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Unterwegs kaufte er noch ein paar Rosen für seine Frau.