14 Millionen Wahlberechtigte sind schon eine recht ordentliche Zahl. So viele Bürger waren am Sonntag in Deutschlands bevölkerungsstärkstem Land aufgerufen, Bürgermeister, Kommunalparlamente, Landräte und Kreistage neu zu wählen oder zu bestätigen. 14 Millionen – das sind mehr als in allen fünf (neuen) ostdeutschen Bundesländern zusammen und auch mehr als in zahlreichen europäischen Staaten ringsum. Und weil mit 51,9 Prozent immerhin mehr als die Hälfte (also rund 8 Millionen) der Aufforderung zur Wahl nachkam, hat das Ergebnis auch eine gewisse Aussagekraft hinsichtlich der Stimmung innerhalb der gesamten bundesdeutschen Öffentlichkeit.
Gute Aussicht für Laschet
Und die könnte auf eine politische Zeitenwende hindeuten. Denn das Wahlverhalten der Menschen zwischen Rhein und Weser, Münsterland und Eifel hat auf eindrucksvolle Weise eine Entwicklung bestätigt, die als Tendenz bereits über eine längere Periode zu beobachten ist: Es rollt eine grüne Welle. Gewiss, die Christlich-Demokratische-Union (CDU) konnte ihre bislang schon führende Stellung im Lande noch einigermassen verteidigen (34,3 = minus 3,2 Prozent). Das verleiht dem Parteichef und Ministerpräsidenten Armin Laschet eine recht komfortable Position bei seinem Anspruch, auf dem CDU-Bundesparteitag im Spätherbst zum neuen Vorsitzenden und damit – höchstwahrscheinlich – christdemokratischen Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl im nächsten Jahr bestimmt zu werden. Jedenfalls erhöht ein solcher Wahlsieg (trotz kleinen Verlusts) die Aussichten gegenüber den Mitbewerbern Friedrich Merz und Norbert Röttgen beträchtlich.
Aber die CDU konnte eben nicht zulegen. Gewiss, bei Kommunalwahlen spielen (sollten es jedenfalls) andere Dinge eine Rolle für die Stimmabgabe als bei Urnengängen für die Landtage oder gar den Bundestag. In den Gemeinden und Landkreisen geht es zuvorderst um „bodenständige“ Probleme und nicht um Aussenpolitik. Auch kennt man die Bewerber meistens persönlich. Umso mehr erstaunt es, dass die Union in NRW trotz der im Grossen und Ganzen durchaus vorzeigbaren Leistung der Düsseldorfer Koalitionsregierung aus CDU und FDP (wenn auch nur geringfügig) herabgestuft wurde. Zumal, zumindest im Hintergrund, immerhin die Möglichkeit steht, dass Laschet im Herbst 2021 als Bundeskanzler die Nachfolge Angela Merkels antreten könnte …
Konkret: Das CDU-Ergebnis vom Sonntag war das schlechteste in der Geschichte des Landes seit 1946. Und dennoch ist diese „Delle“ im Landesdurchschnitt überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Absturz der besonders in Nordrhein-Westfalen einst fast übermächtigen Sozialdemokraten. Das, was die Wähler soeben der SPD versetzt haben, war weit mehr als nur ein Nackenschlag. Zwar versucht deren geradezu erbarmungswürdiger Landesvorsitzender, Sebastian Hartmann, den Vertrauensverlust um 7,1 Punkte auf gerade noch 24,3 Prozent (ebenfalls historisch schlechtestes Abschneiden) tatsächlich als „Trendwende zum Positiven“ zu verkaufen. Schliesslich sei man doch immer noch auf Platz zwei und damit sogar vor den Grünen gelandet. Um so zu argumentieren, braucht man – zurückhaltend formuliert – richtig Mut.
Kein Scholz-Effekt
Während die CDU in der Wählergunst augenscheinlich stagniert, kann man bei den Sozialdemokraten nicht einmal mehr von Krise sprechen. Deutschlands älteste und mit dem Glanz einer ruhmvollen Geschichte versehene Partei steht gegenwärtig buchstäblich am Abgrund. Politisch-inhaltlich haben ihr die Grünen und (in Massen) die postkommunistischen Linken das Wasser weitgehend abgegraben. Entstanden im Massenelend der Menschen während der ersten industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, hat sie sich nicht darum bemüht, in den sich rapide verändernden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch sozialen Trends des ausgehenden 20. Jahrhundert zum Partner und Sachwalter der in der „neuen“ Ökonomie Beschäftigten zu werden. Den Stahlarbeiter in Duisburg und den Bergmann in Gelsenkirchen aber gibt es nicht mehr, und der Informatiker in Düsseldorf und Essen ist nicht an den alten Geschichten vom Parteikassierer interessiert, der sich „damals“ auch um das Wohlergehen der alleinstehenden Oma in der Siedlung kümmerte.
Zusätzlich fehlen den Sozis prägende Figuren wie Helmut Schmidt und Willy Brandt. Ob die Genossen in Berlin wirklich geglaubt haben sollten, dass die überraschend früh erfolgte Nominierung von Finanzminister Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2021 einen Impuls bei der NRW-Kommunalwahl geben werde? Dann, freilich, wäre dieser Glaube am Sonntag in einem Nichts zerstoben. Dazu kommt, dass von dem mit grossem Brimborium gefundenen und gekürten Führungsduo Saskia Eskens und Norbert Walter-Borjans – wenigstens bislang – überhaupt noch keinerlei Belebung ausgegangen ist. Nein, wenn die deutsche Politik und Gesellschaft tatsächlich an einer Art Zeitenwende stehen, dann ist das am deutlichsten (und vielleicht auch schmerzlichsten) bei der SPD auszumachen. Götterdämmerung bei der traditionellen linken Volkspartei? Nicht ausgeschlossen, dass eine solche auch den, lange Zeit von Erfolgen verwöhnten, Konservativen bevorsteht. Werden zum Beispiel die Wähler den Christdemokraten und Christsozialen treu bleiben, wenn im kommenden Jahr Angela Merkel die politische Bühne verlässt?
Für eine Zeitenwende stehen, keine Frage, die Grünen. Vor 40 Jahren gegründet, über erbitterte innere Zerwürfnisse und Personalgefechte zu linksliberalem Mass und pragmatisch-gestalterischen Fähigkeiten gereift, sind sie zu einer immer stärkeren Kraft im Lande geworden. Bei den NRW-Kommunalwahlen blieb ihnen die Krone noch versagt – das Bürgermeisteramt in einer Grossstadt. Dieses Ziel können sie, freilich, noch erreichen. Zum Beispiel bei der in Aachen notwendigen Stichwahl zum nächsten Stadtoberhaupt, bei welcher der grüne Kandidat keine schlechten Aussichten hat. Aus anderen Städten sind dafür stolze Erfolge zu vermelden. In Nordrhein-Westfalens grösster Stadt, Köln, und in der nicht weit davon entfernten einstigen Bundeshauptstadt Bonn ist die neue Ratsmehrheit jeweils tief grün eingefärbt. Und möglicherweise wird dort (ebenfalls Stichwahl) auch die nächste Oberbürgermeisterin „grün“ sein.
Grün gilt als die Farbe der Zukunft
Kein Zweifel, die grüne Welle rollt. Und dass dies keine einfache Modeerscheinung ist, zeigt schon die Tatsache, dass – trotz und gerade – während der Corona-Krise und der damit bei vielen Menschen vorherrschenden Ängsten die so genannten grünen Themen bei den Bürgern angekommen sind: am automobilen Verkehr erstickende Städte, bezahlbarer Wohnraum, verfallende Schul- und Sportgebäude, nachhaltiger Schutz der Umwelt, bedrohtes Klima. Dabei verwundert nicht, dass die einstige Sonnenblumen-Partei vor allem bei den Jungen stark punkten konnte. Anders als bei Landtags- und Bundestagswahlen dürfen in Deutschland nämlich bei den kommunalen Urnengängen bereits 16-Jährige teilnehmen. Und alle Untersuchungen ergaben, dass die Grünen zuvorderst aus der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen Zulauf bekamen. Verblüffend in diesem Zusammenhang ist allerdings ebenfalls, dass die CDU aus dieser Altersklasse den zweithöchsten Beifall erhielt.
Und die Moral von der Geschicht? Vergiss nur ja die Umwelt nicht! Peter Glotz, der einstige SPD-Bundesgeschäftsführer und spätere Professor an der Universität St. Gallen, hat die grossen Parteien einmal mit Riesentankern verglichen, bei denen ein Kurswechsel einen langen Weg und viel Zeit braucht. Noch einmal daher: Auch wenn die Sonntagswahlen in Nordrhein-Westfalen „nur“ kommunalen Entscheidungen dienten, setzten sie doch den Traditionsparteien nicht zu überhörende und zu übersehende Warnschüsse mit der Botschaft vor den Bug: Kein Weiter-so, wenn ihr auch in Zukunft die Geschicke des Landes bestimmen wollt. Die Kunde, mithin, ist klar. Aber ob sie von den „Altparteien“ auch verstanden wird? Die Zeiten haben sich nun mal geändert. Und mit ihnen auch die Probleme.