Die Szenen und Bilder zu Beginn des Films "Grozny Blues" konfrontieren den Zuschauer mit krassen Gegensätzen: Zunächst glitzernde, hoch in den Himmel ragende Büro- und Wohntürme wie man sie aus Houston oder Hongkong kennt, breite Verkehrsalleen, parkähnliche Grünflächen, eine riesige Moschee, flankiert von vier schlanken Minaretten. Es folgen Bilder mit total zerbombten Häusern, rauchende Trümmer, die Leichen getöteter Männer, verzweifelte Frauen – eine unter ihnen schimpft ausser sich vor Zorn und Elend auf Putin, der hier alles zerstören lasse aber nicht den Mut habe, selber gegen die unglücklichen Frauen zu kämpfen.
Man kennt solche Bilder der Zerstörung von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny aus den Fernsehnachrichten während des ersten (1994 – 1997) und vor allem während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999 - 2007). Der Wiederaufbau der in Trümmern liegenden Stadt zu einer äusserlich modernen, mit manchen Attributen einer prosperierenden Boom-Stadt ausgestatteten Metropole erfolgte innerhalb weniger Jahre in atemraubendem Tempo. Finanziert wurde und wird dieses kostspielige Auferstehungs-Projekt paradoxerweise vom Putin-Regime in Moskau, das wenige Jahre zuvor Grosny in Schutt und Asche hatte legen lassen. Während der beiden Tschetschenienkriege sind laut offiziellen (aber nicht unbedingt zuverlässigen) Angaben um die 160'000 Menschen ums Leben gekommen, eine wohl ähnlich grosse Zahl von Einwohnern der kleinen russischen Teilrepublik im Nordkaukasus ist vertrieben worden.
Inzenierte Putin-Begeisterung
Doch auf diese und viele andere Fakten der tschetschenischen Tragödie (zu denen auch die blutigen Terroranschläge tschetschenischer Extremisten in russischen Städten und in andern russischen Teilrepubliken gehören sowie die von der zerstrittenen tschetschenischen Führung nach dem Waffenstillstand von 1997 verspielte Chance einer weitgehenden Unabhängigkeit von Moskau) wird in Nicola Beluccis „Groszny Blues“ nicht näher eingegangen. Sie bilden nur den politisch-zeitgeschichtlichen Hintergrund seines Dokumentarfilms. Zu diesem Hintergrund gehört die Mafia-artige, muslimisch verbrämte Diktatur von Ramsan Kadyrow, dem Statthalter Putins in Tschetschenien.
Im Mittelpunkart von Beluccis packenden Bildern und Szenen-Kompositionen steht das Engagement mehrerer tschetschenischer Frauen, verzweifelten Mitbürgern Hilfe bei der Suche nach verschwundenen oder verschleppten Angehörigen zu bieten. Diese starken Frauen sind selbst bedrängt von der obrigkeitlichen Repression, sie leiden unter den Traditionen einer archaischen Macho-Gesellschaft, sie sehen die Widersprüche zwischen dem nur vordergründig intakten Nationalstolz der Tschetschenen und den opportunistischen Anpassungen an die vom Kadyrow-Regime inszenierten Russland- und Putin-Begeisterung.
Abgründe gespaltener Gesellschaften
Dazwischen blendet der Film auch kleine Nischen eines nicht angepassten, unterschwellig rebellischen Lebens in der der von sterilen Fassaden dominierten tschetschenischen Hauptstadt ein. Im Keller eines Hauses hat eine Handvoll jüngerer Männer einen Blues-Club eröffnet, in dem für diese Stadt ganz unkonventionelle Musik gemacht wird und eine geheimnisvolle junge Frau ohne obligatorisches Kopftuch sich als Jazz-Sängerin versucht.
Es mag sein, dass eine intensivere Einbeziehung des politischen Hintergrundes dem Zuschauer die Einordnung und die Zusammenhänge der starken Bilder und Szenen aus der gespenstischen Glitzerstadt Grosny dieses eindringlichen Filmes erleichtert hätte. Doch wie der in Basel lebender italienischen Regisseur Nicola Bellucci bei der Präsentation in Zürich betonte, geht es ihm mit diesem Werk nicht allein um die abgründigen Wirklichkeiten in der wiederaufgebauten Stadt an der nordkaukasischen Peripherie von Putins Reich.
Dieser Film ist für ihn auch eine Parabel auf jene „gespaltenen Gesellschaften, die in einem Niemandsland von Krieg und Frieden, Repression und Freiheit, von modernem Lebensstil und archaisch-religiösen Traditionen feststecken“. Man denkt an aktuelle Beispiele wie Syrien, Libyen und eine Reihe anderer Länder in Afrika, auch an die Zustände in französischen Banlieus und in anderen modernen Grosstadt-Ghettos.
Der Film „Grozny Blues“ läuft in diesen Tagen in Zürich (Le Paris), Bern (Kino Rex), Basel (kult.kino atelier 2) und Luzern (Stadtkino)