Am 17.September feierte Narendra Modi seinen 69. Geburtstag. Kein „runder“ Geburtstag also; aber seine Popularität ist inzwischen so in die Höhe geschossen, dass auch der geringste Anlass genügt, um seine Anhänger in Ekstase zu versetzen. So geschah es drei Tage später, als ihm in einem Sportstadium in Houston, Texas, 50’000 Indo-Amerikaner frenetisch applaudierten.
Vatermord?
So erging es auch der Gattin des Regierungschefs von Maharashtra. Frau Fadnavis’ Geburtstags-Tweet ging nicht an den ersten Bürger der Republik, sondern an den „Vater des Landes“. Die Metapher schien weit hergeholt, aber sie genügte, um die Sozialen Medien sofort aufzuheizen.
Manche Inder machte sie auch stutzig. Denn nur zwei Wochen später, am 2.Oktober, wird der 150. Geburtstag M. K.Gandhis gefeiert, Indiens genuiner „Vater der Nation“. Nun lag @FatherOfTheNation plötzlich im Trend – aber er bezog sich nicht mehr ausschliesslich auf den Mahatma, sondern auch auf den neuen Vater.
Erleben wir hier einen Freudschen Vatermord? Auf jeden Fall versucht Herr Modi nicht, sich als Sohn seines Landsmanns zu positionieren, wie dies angesichts der gemeinsamen Abstammung aus Gujerat und dem Generationenunterschied angemessen wäre.
Angriff auf Gründerväter
Inzwischen gibt es genügend Hinweise, dass Modi mit seinem grossen Reinemachen bei den demokratischen Institutionen nun auch bei den Gründervätern aufzuräumen gedenkt. Nehru, neben Gandhi die wichtigste Ikone des unabhängigen Indiens, ist bereits als Verräter Kaschmirs und als westlicher Atheist zur Unperson erklärt worden. Bei Gandhi ist dies nicht so einfach, denn für zu viele Bürger – gerade im ländlichen Indien – ist er immer noch eine Identifikationsfigur.
Warum ihn nicht kooptieren? So geschieht es jedenfalls bei der grossen Sauberkeitskampagne, für die gemäss Regieanweisung des Premierministeramts beide Väter das Patronat übernommen haben. Mit einem kleinen Dreh allerdings: Gandhi erscheint nur indirekt, reduziert auf die ikonische runde Nickelbrille. Bei Modi dagegen ist es sein eigenes Konterfei. Der Eine ist das Maskottchen, NaMo ist The Real Thing.
Ähnlich beim Jahreskalender der staatlichen Khadi-Organisation, die – mit viel Geld – Gandhis Hand-Spinnen und -Weben propagiert. Statt wie üblich ein Bild des Mahatma auf das Deckblatt zu setzen, ist es diesmal der Premierminister, der am Spinnrad sitzt und den Baumwollfaden aufzieht.
Der Triumphator
Dennoch vermeidet der Premierminister sorgfältig jede Kritik. Er weiss, dass sich auch 71 Jahre nach Gandhis Tod sein Mythos immer noch politisch ummünzen lässt. Die Kongresspartei hat es schliesslich während Jahrzehnten vorexerziert. Gandhi war neben Nehru die ewige Galionsfigur der Partei, er gab dem Kongress den Nimbus der quintessenzielen politischen Formation des Landes. Die Partei spielte auch gekonnt mit der Ambiguität der Namensgleichheit mit Indira Gandhi – die nicht mehr als das war.
Aber nun ist es die regierende BJP, die dem Vater der Nation die Reverenz erweist, indem sie ihn zum König ohne Land macht. Die Reduktion zum Maskottchen ist eine viel effektvollere Liquidation als die rhetorische Schleifung seiner Statuen, wie dies bei Nehru geschieht.
Die Hindutva-Ideologie bleibt jener Gandhis diametral entgegengesetzt. Wo Gandhi Gewaltlosigkeit, religiöse Toleranz, Askese und Gewissenserforschung vorlebte, tritt der neue Übervater als Triumphator auf. Zum Beispiel am letzten Sonntag in Houston, wo Modi, händchenhaltend mit Donald Trump, im riesigen Stadium eine Siegesrunde drehte. Es war eine ideale Doppelbesetzung.
Wechsel einer Silbe
Doch wie lässt sich dieser Spagat zuhause durchstehen? Eine durchtriebene Variante hatte die PR-Abteilung der Provinzregierung von Gujerat im Jahr 2002 gewählt, als Modi dort Chefminister war. Es galt, am 1. Mai, dem Gründungstag der Provinz, dessen berühmtesten Sohn zu feiern, nur Monate nach den antimuslimischen Pogromen.
Die Regierung schaltete in der Lokalausgabe der Times of India eine ganzseitige Anzeige. Zuoberst stand ein Gandhi-Zitat: „Non-Violence is not a shield to hide cowardice. It is the greatest asset of the brave.“ Gewaltlosigkeit als mutiger Akt? Das passte schlecht zum Gujerat von 2002, mit seiner Orgie von Gewalt. Was also taten die schlauen Werbeleute? Sie strichen einfach die Silbe „Non“ im ersten Wort, und alles war wieder auf den Punkt gebracht.
Gandhi als Sündenbock
Ähnlich verschlagen tat es die BJP bei den letzten Wahlen. Wie konnte man die zahlreichen Hindutvadis zufriedenstellen, die in Gandhi den „Vater von Pakistan“ sehen – ohne dabei Millionen von Wählern vor den Kopf zu stossen? Kein Problem: Statt einer direkten Denunziation des Staatsgründers preist man – dessen Mörder.
Straflos können heute Statuen von Nathuram Godse aufgestellt, können diese an dessen Geburt- und Hinrichtungstag bekränzt werden. Und straflos konnte die BJP die eines Terrorakts angeklagte „Nonne“ Pragya Thakore zur ihrer Kandidatin küren, obwohl sie Godse als „Patrioten“ gepriesen hatte.
Der RSS, Kaderorganisation der Hindutva-Bewegung, kann dank seiner zahlreichen, formell unabhängigen Vereinigungen seine radikale Ideologie und seine Kampfmethoden immer dem jeweiligen Publikum anpassen. In Gujerat von 2002 etwa war es der „Welt-Hindu-Rat“ (VHP) gewesen, der fürs Grobe zuständig war.
Dessen Sprecher Praveen Togadia redete nicht um den Brei herum, als ich ihn für mein Buch „Abschied von Gandhi?“ interviewte. Hindus seien Feiglinge, effeminierte Weicheier. „Wir füttern Hunde mit Brot, geben Schlangen Milch“, sagte er. Daran ist Gandhi schuld. Er ist so etwas wie die Apotheose des Inders, der die andere Wange hinhält. Deshalb müsse sich Indien statt auf ihn auf die hinduistische Krieger-Tradition besinnen, um der Muslime Herr zu werden.
Zersplitterung
Gandhi dagegen lebte die uralte philosophische Tradition von Ahimsa – Gewaltlosigkeit – vor. In allem Lebenden wirkt das Atman, so etwas wie die „Weltseele“. Dies bedeutet Respekt für jedes Lebewesen, aber auch Toleranz für alle möglichen Denk- und Glaubensformen.
Doch was für ihn die Stärke des Hinduismus ausmachte, ist für die Hindutva-Bewegung dessen grösste Schwäche. Gandhis „Vielfaltigkeit der Realität“ bedeutet für Togadia, dass „die Hindus in tausend Sekten zersplittert sind. Der Islam dagegen ist ein Monolith“.
Togadia hatte nicht unrecht, als er für den Hinduismus kriegerische Helden-Traditionen reklamierte; auch die Philosophen Vivekananda und Aurobindo hatten dies zu Beginn des 20.Jahrhunderts getan. Dass sich im Westen schliesslich das Bild vom gewaltlosen Inder durchsetzte, ist hauptsächlich dem Einfluss Gandhis zuzuschreiben.
Aggression als Tugend
Mit diesem Indien-Klischee haben wir aber auch – und dies ist weniger schmeichelhaft – das koloniale Stereotyp des friedfertigen, kontemplativen Inders geschluckt. Für Grossbritannien war dieses Konstrukt der Beweis für seine Überlegenheit als männliche Rasse. Damit legitimierte es seine imperiale „Schutzmacht“-Rolle über diese kindliche Zivilisation – White Man’s Burden, wie es Rudyard Kipling nannte.
Hinter der Usurpation „Vater“-Titels kündigt sich also ein Paradigmenwechsel in der indischen Politik und Gesellschaft ab. Plötzlich stehen Säkularismus, Föderalismus, Freiheitsrechte und Minderheitenschutz zur Disposition.
Höchste Zeit also, dass man den Vater der Nation aufs Altenteil setzt. An seine Stelle tritt ein Mann, der statt zu fasten seine Muskeln spielen lässt. Warum sollte er nicht? Die Hindu-Nonne Pragya Thakore jedenfalls gewann ihren Sitz mit haushohem Vorsprung.
Ähnlich sah es auch die Tageszeitung Telegraph aus Kolkata, als sie letzte Woche den Geburtstags-Tweet von Frau Fadnavis kommentierte. „Die gewaltsame Atmosphäre im Land ruft nach einem neuen Vater ... Aggression ist nun eine Tugend ... Luftangriffe und kriegerische Posen, Triumphalismus und Lynchjustiz sind weit entfernt von dem, was der Vater der Nation zu schaffen versucht hat.“
Am Ende war es Donald Trump, der an seinem gleichgesinnten Freund vor der Weltöffentlichkeit die Vater-Salbung durchführte. Vielleicht wollte er sich bei Modi für die kostenfreie Wahlplattform bedanken, die ihm dieser in Houston geboten hatte. Zwei Tage später, bei einem gemeinsamen Medienauftritt am Rande der Uno-Generalversammlung in New York, gab er dem demütig zuhörenden Modi seinen Segen, Urbi et Orbi: „Er hat sein Volk zusammengeführt. Deshalb können wir ihn nun den ‚Vater Indiens‘ nennen.“