Nach Duden heisst „zumuten“: „ein Ansinnen an jemanden richten, Ungebührliches verlangen“. Im Alter bekommt man nicht mehr, was einem früher gebührte. Das Alter verweigert das, worauf wir Anspruch zu haben glaubten: Ein widerstandsfähiges Selbstbild, das auf der kompetenten Lebensbewältigung, einem zuverlässigen Körper und der Anerkennung von aussen beruhte. Das war einmal. Heute behindern Energiemangel und Verlangsamung das, was wir uns vornehmen. Die Effizienz hat sich verabschiedet. Es wird Abend bevor auch nur die Hälfte dessen, was ansteht, erledigt ist. Die Vitalitätskurve sinkt und wird bald die Waagrechte kreuzen, die Sein vom Nichtsein trennt.
Das Alters-Lamento
Die Altersrealitäten kollidieren frontal mit der Forderung unserer Gesellschaft, jederzeit jung und dynamisch auf dem Sprung zu sein. Das Schreckgespenst Alter holt sämtliche Abwehrmechanismen auf den Plan. Nicht einmal sich selber mag man die Schwere in allen Gliedern zugeben, den Schreck über das rasend schnelle Schwinden der noch verbleibenden Zeit, die Trauer um die vielen Verluste und die Angst in schlafarmen Nächten, wenn der Überfall durch die bedrohlichen Bilder nicht abgewehrt werden kann. Der kalte Blick einer unversöhnlichen Tochter, die Abwesenheit eines Sohnes, der auch mit fünfundvierzig den Tritt im Leben noch nicht gefunden hat, und die wütende Enkelin, die jedes Gespräch zwischen Erwachsenen stört und ihre alleinerziehende Mutter tyrannisiert, drücken auf die Seele. Das Versäumte kann nicht nachgeholt werden und das Kommende ängstigt. All das darf nicht nach aussen dringen, sondern muss als Privatsache weggesteckt werden, damit das Image des animierten, optimistischen und interessierten Zeitgenossen möglichst intakt bleibt.
Der Körper, einst ein zuverlässiger Verbündeter, verlangt nun aufwändige Unterstützung und hat erschreckende Überraschungen bereit. Er scheint früher selbstverständliche Fähigkeiten vergessen zu haben. Man schwimmt mit dem ganzen verbliebenen Rest der Kraft stromaufwärts, um wenigstens am gleichen Ort zu bleiben und nicht weggespült zu werden. Ohne die Lockerungsübungen nach dem Aufstehen schmerzt das Kreuz den ganzen Tag. „Batterie!“ brüllt das Hörgerät mitten im Gespräch. Die durch die Coronamaske eingenebelte Brille erschwert die Sicht und macht den Gang noch unsicherer, als er ohnehin schon ist.
Beklemmende Berichte von Gleichaltrigen über ihre düsteren Diagnosen, ihre Krankheiten und Funktionsverluste zeigen die fragile Vorläufigkeit der Gesundheit. Der medizinische Unterhalt, Kontrolluntersuchungen, Abklärungen und Therapien fressen sich in die Agenda und belasten das Zeitbudget, von der Anspannung ganz zu schweigen, die das Warten auf Untersuchungsresultate zu einer Vollzeitbeschäftigung macht. Der alte Körper schleppt sich im Schneckentempo zur Heilung. Patient kommt von Patientia, das heisst Geduld. Eine unerbittliche Lektion des Alters besteht in der Notwendigkeit, die Ungeduld zu zügeln. Das Abwägen zwischen medizinischen Eingriffen und momentaner Lebensqualität fordert schwerwiegende Entscheidungen. Wo kippt die Verlängerung des Lebens in ein langsames Sterben um? Die Sterblichkeit deckt die Trutzburg der mentalen Widerstandskraft mit einem Trommelfeuer von Hiobsbotschaften ein. Corona hat uns gerade noch gefehlt.
Die Relation zwischen Abdankungen und erfreulichen Anlässen verschiebt sich zuungunsten der letzteren. Es wird immer anstrengender, die soziale Fassade einigermassen aufrecht zu erhalten. Viele soziale Events haben ihren Reiz verloren. Der Glanz vormaliger Erfolge verblasste. Die Höhenflüge der Selbstbestätigung, die sozialer Status, mentale Präsenz und jugendliche Vitalität generierten, sind Vergangenheit. Früher navigierte man mit Lust und Begeisterung auf dem Meer der Kontaktmöglichkeiten, während heute kaum noch die Zehe das Wasser berührt. Vergesslichkeit und Wortfindungsstörungen behindern die Teilnahme am Gespräch. Als passive Randfigur wird man übergangen oder höflich ausgehalten. Der Rückzug in die Familie und den Freundeskreis, dorthin, wo man sich die wohlwollende Akzeptanz weniger verdienen muss, liegt nahe.
Die bange Lektüre der Todesanzeigen zeigt, wie das durchschnittliche Todesalter auf den eigenen Jahrgang zukriecht. Die Zukunft Tod schiebt sich unübersehbar über den Horizont und lässt sich nicht mehr verdrängen. Der grosse Tod, den jeder in sich hat, wie Rilke sagt, macht sich bemerkbar. Und dafür sind wir schlecht vorbereitet. Kaum haben wir begonnen, die Todesverdrängung des 20. Jahrhunderts, die uns geprägt hat, hinter uns zu lassen, knallt uns nun Corona unsere Sterblichkeit äusserst indiskret vor die Füsse.
Grossmut, Demut und Übermut
Das Alters-Lamento hat durchaus seine Berechtigung. Aber das Alter bietet mehr. Die Zumutungen stimulieren oft eine mentale Entwicklung. Das althochdeutsche „muot“ wird vom Duden mit der Kraft des Denkens, Empfindens und Wollens in Verbindung gebracht. Die Zumutung weckt den Mut. Es geht um eine Haltung der Unerschrockenheit den Zumutungen gegenüber. Man lässt sie sich nicht gefallen und wehrt sich. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“ heisst der Titel des Buches von Joachim Fuchsberger. Die Dichterin Hilde Domin nennt Grossmut, Demut und Übermut das, was es braucht, um das Alter zu bestehen, um mit seinen Gegebenheiten zurechtzukommen und ihnen Gutes abzugewinnen. Den Alterszumutungen mit Grossmut, Demut und Übermut zu begegnen, jedesmal, wenn es ansteht, ist eine aufwändige und lohnende Beschäftigung, die sich ab und zu zur heiteren Gelassenheit verdichten kann.
Grossmut
Ein goldenes Schmuckstück, ein zierlich geschmiedetes Arrangement von kleinen Efeublättern wechselte am achtzigsten Geburtstag meiner Tante die Besitzerin. Diese Tante verschenkte zur Feier des Tages ihren ganzen Schmuck. Grossmut übersetzt sich auf der materiellen Ebene in Grosszügigkeit. Weshalb später vererben, statt mit warmen Händen schenken? Mit dem Schenken von Zeit entlasten wir unsere sich durch den Trubel der mittleren Jahre durchkämpfenden Kinder. Eltern von Kleinkindern ein schönes Wochenende inklusive Kinderbetreuung spendieren, als Störköchin ein Fest bereichern oder dem Enkel eine Weiterbildung ermöglichen machen rundum mehr Freude als das Horten von Besitz.
Das Älterwerden entlässt uns aus Verpflichtungen. Locker nein sagen, wo es nicht mehr stimmt, befreit. Aus Kindern werden verantwortungsfähige Erwachsene, die man der Selbststeuerung überlassen kann und muss. Die Pensionierung beendet für Viele berufliche Verantwortungen. Selbständig Erwerbende entlasten sich durch Nachfolger. Die Ebbe der Verantwortlichkeiten bringt indessen nur einen Gewinn an Freiheit, wenn der Machtverzicht wirklich geleistet wird. Wer die alten Einfluss-Sphären nicht verlassen kann, wird zum lästigen Einmischer. Mit zuverlässiger Regelmässigkeit relativiert das Leben die meisten Gewissheiten, was zuerst Irritation, später aber auch Einsicht und schliesslich Toleranz hervorrufen kann. Die felsenfesten Überzeugungen, für die wir mit jugendlichem Eifer kämpften, lösen sich in nachdenkliche Fragen auf. Diese gewähren anderen Auffassungen mehr Raum. Sich gegen die Gezeiten des Lebens zu stemmen, strapaziert die Nerven, die eigenen und die der Opfer der gutgemeinten Ratschläge. Sie machen es anders als wir. Das nicht einfach falsch zu finden, sondern den Blickwinkel so zu erweitern, dass ihr Standpunkt sich als verständlich, akzeptabel und sogar unterstützenswert präsentieren kann, fordert den grossmütigen Verzicht auf liebgewordene Denkgewohnheiten.
Die alten strengen Massstäbe taugen nicht mehr. Wer das von sich verlangt, was früher möglich war, hat das Spiel verloren. Die mentalen und körperlichen Alters-Verluste führen günstigenfalls über Phasen von Verdrängung, Scham und Trauer zu ihrer Integration, was eine innere Ausweitung stimuliert. Gnädig mit den eigenen Altersdefiziten umzugehen begünstigt deren grosszügige Einordnung bei Anderen. Damit gelingt es besser, irritierende Verhaltensweisen der Allernächsten zu tolerieren. Die kognitiven Alters-Verluste lassen sich im alltäglichen Zusammenleben nicht verbergen. Sie müssen gegenseitig ausgehalten werden. Für das Beziehungsklima wird es jetzt unverzichtbar, Fünf gerade sein zu lassen. Das Leiden an den peinlichen Alters-Fehlleistungen ist im Trost viel besser aufgehoben als in der Kritik.
Demut
Demut vor Gott verweist das Ego in die hinteren Ränge. Die dienende Haltung dem als grösser Erkannten gegenüber prägte früher als Ideal einer christlichen Lebensführung die Grundhaltung vieler Menschen. Dieses Ideal kann leicht missbraucht werden und führt dann dazu, legitime Ansprüche zu unterdrücken. Die Machtspiele der Herrschenden wurden und werden von jungen Männern, denen man den Dienst am Vaterland als erstrebenswerte Tugend verkauft hatte, mit dem Einsatz ihres Körpers und ihres Lebens ausgetragen. Eine Sozialisierung, die den Mädchen dienende Passivität als essentielle weibliche Tugend einpflanzte, hindert Frauen noch heute daran, eine faire Arbeitsteilung im Haushalt oder einen gerechten Lohn im Berufsleben einzufordern. Die gegenwärtige Generation der alten Frauen kämpfte dagegen an und hat von daher mit der Demut ihre liebe Mühe. Und doch erweisen sich Sinn und Freude, die der Dienst am Nächsten, an der Familie und an der Gemeinschaft generieren, als zuverlässiges Gegengewicht zu den Alters-Zumutungen.
Die Alters-Verluste setzen die jedem Leben inhärente Serie von unliebsamen Veränderungen fort. Niemand entgeht den Demütigungen. Die meisten von uns werden das ganze Leben lang mit Entwertungen eingedeckt, die von kleinen Kränkungen der Eitelkeit über verlorene Machtkämpfe bis zu identitätsbedrohenden Niederlagen gehen. Vor der ganzen Klasse blossgestellt zu werden gräbt sich ins Gedächtnis ein. Die nicht bestandene Prüfung, das abgebrochene Studium und die Scheidung bleiben als schambesetzte Gesichtsverluste lange wirksam. Genau diese Erfahrungen sind im Alter hilfreich. Die Zeit milderte die brennende Scham, und die Kränkung rückte in den Hintergrund. Die aktive Auseinandersetzung mit der Verletzung führte manchmal zu neuen Erkenntnissen.
Was im ersten Moment wie eine unerträgliche Schmach ausgesehen hatte, erwies sich später als Wendepunkt, dem eine gute Richtungsveränderung folgte. Derartige Prozesse schleifen das Ego ab. Wer kein glorioses Selbstbild verteidigen muss, ist weniger verletzlich. Lebenserfahrene alte Menschen haben gelernt, mit entwertenden Situationen so umzugehen, dass ihre Integrität nicht tangiert wird. Sie lassen Unangenehmes weniger an sich herankommen. So ertragen viele souverän die Demütigungen der Abhängigkeit, die das voranschreitende Alter mit sich bringen kann, nehmen mit dankbarer Grazie die angebotene Hilfe entgegen und sind imstande, für sich und ihr Umfeld gute Momente zu schaffen.
Seit der Neuzeit sieht sich das säkularisierte Individuum als Nabel der Welt, und die Nabelschau nimmt überhand. Ein hochbesetztes Ego ist nicht alterstauglich und nicht geeignet, mit den Gegebenheiten der Sterblichkeit umzugehen. Wir nehmen uns zu wichtig. Wir sind nicht mehr als winzige Sandkörnchen an einem unendlichen Strand, über den die Gezeiten hinwegbrausen, als eine von Milliarden von Ameisen in einem Riesengekrabbel, ersetzbar und unbedeutend. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa schrieb dazu folgende Zeilen:
Wenn der Frühling kommt,
und ich sollte schon tot sein,
werden die Blumen blühen wie immer,
und die Bäume nicht weniger grün sein als im vergangenen Frühling.
Die Wirklichkeit braucht mich nicht.
Ich spüre ein unermessliches Glücksgefühl
bei dem Gedanken, dass mein Tod keine Bedeutung hat.
Übermut
Der dunkle Kontrast der Sterblichkeit bringt die kleinen Freuden zum Glitzern. In der knusprigen Frühlingsluft durch den Wald zu traben, mit der Freundin den guten Untersuchungsbericht zu feiern, den langjährigen Partner zu verblüffen und ein überraschtes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern zelebrieren die unendliche Leichtigkeit des Seins. Der Übermut grenzt an Leichtsinn. War dieser Tandemgleitflug wirklich nötig? Er war. Die Tochter hatte ihn ihrer Mutter zum achtzigsten Geburtstag geschenkt, einer Mutter, die einem solchen Geschenk gewachsen war. Kinder laden ein zum Tanz mit den Feen und den Sauriern. Die warmen kleinen Schmuser schmelzen die eisigen Alters-Zumutungen auf der Stelle weg. Dann kommt das kindliche Staunen über die wundervolle Welt zum Vorschein – auch bei uns.
Damit man früher überhaupt durchkam, brauchte es straffe, durchgetaktete Abläufe. Ein prall gefüllter Alltag erlaubte keine Abweichungen von seiner vernünftigen Bewältigung. Heute können wir die Tüchtigkeit an den Nagel hängen und uns den Vorstellungen und Träumen zuwenden. Zwischen A und B muss nicht mehr unbedingt der kürzeste Weg gewählt werden. Sich die Musse des Alters zu gönnen hilft zu nehmen, was sich anbietet. Jetzt liegt ein Verweilen eher drin, und die Blume am Wegrand hat Zeit, uns zu erfreuen.
Dem Druck der Verpflichtung entronnen, sich als anpassungswilliges Mitglied der Gesellschaft zu inszenieren regt die Fantasie an. Man darf herumspielen, sich verkleiden und neue Verhaltensweisen ausprobieren. Als schrullige Alte zu provozieren oder die grosse Dame zu geben machen Spass. Eine generöse Dosis Frechheit gibt dem Alter die nötige Würze. Jüngst noch bemüht, ihre widerspenstigen Schäfchen für die gewohnten Familienrituale zusammenzutreiben, streikt die Grossmutter plötzlich und macht sich an Ostern mit einer Freundin für ein Wellnesswochenende aus dem Staub. Der Verführung durch ein E-Bike erlegen, surfen die glücklich Entkommenen auf den grünen Wellen der Landschaft. Die respektable Berufsfrau und die pflichtbewusste Ernährerin haben ausgedient. Niemand ist von uns abhängig. Es kommt nicht mehr darauf an.
Die Wonnen des Alleinseins, die Abenteuer der Lektüre, die Musik und das Verreisen in die inneren Ländereien von Fantasien, Erinnerungen und Plänen streifen unergiebige Kontakte ab. Der Ballast sinnlos gewordener Gewohnheiten und Verpflichtungen wird abgeworfen, sodass der farbige Ballon der Lebensfreude in den Himmel schweben kann. Überhaupt noch am Leben zu sein ist ein einziger Triumph.