Kurze Geschichten sind in. Stephen Hawking schrieb eine „Kurze Geschichte der Zeit“, Ken Wilber „Eine kurze Geschichte des Kosmos“, Bill Brysen eine „Kurze Geschichte von fast allem“, Harald Lesch und Harald Zaun „Die kürzeste Geschichte allen Lebens“ und so weiter. Man könnte vom Genre der Grossgeschichtsschreibung sprechen, die Zeitspannen von gewaltigem Ausmass ins Visier nimmt, allerdings in den Titeln ihrer Bücher kokett „kleine“ oder „kurze“ Geschichten ankündigt. Vom israelischen Historiker Yuval Harari gibt es neuerdings zwei Proben dieses Genres: „Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus: Eine (kurze) Geschichte der Zukunft“ (englisch: „A Brief History of Tomorrow“). Natürlich ist das ironisch gemeint. Keines der Bücher ist kurz. Und keines der Bücher liefert eine seriöse Geschichte, sondern ein als Geschichte aufgemachtes Fresko des Gegenwarts- und Zukunftsmenschen.
Der „Humanismus“ als Illusion
Grossgeschichtsschreibung bedient sich eines simplen Tricks: Suche ein Grossthema, bausche es auf und posaune eine möglichst dramatische Zukunftsprognose hinaus. Das Grossthema in Hararis zweitem Buch: der Algorithmus; das Aufbauschen: Alles ist Algorithmus; die Prognose: Algorithmen werden den Menschen überwinden. Das lieferte durchaus Stoff für einen konzisen Essay, aber das Konzise ist nicht Hararis Stärke und Stil, sondern das schlenkernde Erzählen – sagen wir es: das Flunkern.
Hararis Buch könnte den Untertitel tragen „Die Zukunft einer Illusion“. Nur ist der Titel bereits besetzt von Sigmund Freud, der 1927 in seiner fulminanten Schrift die Religion als Illusion entzauberte. Als Illusion des gegenwärtigen Zeitalters macht Harari den sogenannten „Humanismus“ aus, den Glauben an die Einzigartigkeit und intelligente Überlegenheit des Menschen. Naturwissenschaften und Künstliche Intelligenz strafen diesen Glauben Lügen, und zwar mittels zweier Prinzipien:
1) Organismen sind Algorithmen.
2) Algorithmen funktionieren stoffunabhängig; das Material, in dem sie implementiert sind, kann auf Kohlenstoff, Blech, Silizium oder was auch immer basieren.
Die simple und falsche Konsequenz daraus:
3) Alles was Organismen können, können Algorithmen in anderen materiellen Medien simulieren oder emulieren. Und sie können es zunehmend besser als Organismen.
Abgang des Homo sapiens
Die These ist nicht neu, sie hat in einschlägigen Kreisen zu intensiven Disputen geführt und sie ist höchst umstritten. Harari verarbeitet sie im letzten Drittel seines Buches geschickt zu einer eingängigen Vision, die den Titel „Homo deus“ rechtfertigt (die ersten beiden Drittel handeln immer noch vom Homo sapiens, sind also in dieser Hinsicht redundant). „Homo deus“ meint ja den Abgang des Homo sapiens von der geschichtlichen Bühne, den Bruch mit der Hegemonie des „Fleisches“, der organischen Materie; das Abzeichnen einer posthumanen Zukunft nicht-organischer Materie, die den Ausnahmestatus des Menschen als Illusion entlarvt. Das ist eine dramatische Aussicht, gewiss, aber sie hängt entscheidend von den Prämissen ab. Und diese Prämissen sind schwachbrüstig.
Organismen als Algorithmen
Zunächst die erste Prämisse. Sie wurde von Daniel Dennett schon vor einiger Zeit mit Verve und Eloquenz vertreten (ein zumindest kursorischer Hinweis wäre angebracht gewesen). Dennett ist Philosoph, mit einem starken Hang zu darwinistischem Missionieren. Unter Biologen ist die Gleichung „Organismus = Algorithmus“ bestenfalls eine diskutierbare heuristische Analogie. Nichtsdestoweniger schlägt Hariri gewaltig auf die Pauke, mit dem Schlüsselbegriff des Dataismus:
„Am festesten verankert ist der Dataismus in seinen beiden Mutterdisziplinen: der Computerwissenschaft und der Biologie. Die wichtigere der beiden ist die Biologie. Es war schliesslich die biologische Überzeugung des Dataismus (sic), die aus einem begrenzten Durchbruch in der Computerwissenschaft eine welterschütternde Umwälzung machte, die womöglich die Natur des Lebens vollkommen verändert. Vielleicht lehnen Sie die Vorstellung ab, dass Organismen Algorithmen sind und Giraffen, Tomaten und Menschen nur unterschiedliche Methoden der Datenverarbeitung. Aber Sie sollten wissen, dass das die gängige wissenschaftliche Lehre ist“. (499)
Wirklich? – Was die Biologen auch tun mögen, so dürfte der kleinste Teil unter ihnen vom Dataismus infiziert sein. Gewisse physiologische und biochemische Prozesse lassen sich durchaus als Schrittfolgen interpretieren, wie wir sie von Programmen her kennen, aber es wäre eine masslose Übertreibung, die ganze biologische Arbeit aufs Erkennen von algorithmischen Abläufen einzudampfen. Zugegeben, das kann faszinieren. Wer aber den Mund voll nimmt mit Thesen wie „Homo sapiens ist ein obsoleter Algorithmus“, müsste vor allem genauer abklären, ob und inwieweit in biologischen Systemen gleiche oder ähnliche Schritt-für-Schritt-Prozesse ablaufen wie in künstlichen Systemen.
Gehirn als Algorithmus – riskante Analogien
Die Frage stellt sich akut für das biologische System Gehirn. In den letzten drei Dekaden verzeichnen die Neurowissenschaften einen enormen Zuwachs an Wissen über die Vorgänge auf neuronaler Ebene. Leicht kann allerdings ein Analogie-Unfall passieren. Hier das Beispiel des Physikers Stephen Wolfram: „Die Operationen des menschlichen Gehirns oder die Entwicklung eines Wettersystems können im Prinzip die gleichen Dinge berechnen wie ein Computer.“ Bedeutet das, dass das Gehirn ein meteorologisches System ist? Natürlich nicht. Das „im Prinzip“ bezieht sich auf eine hochabstrakte Ebene. Und auf dieser Ebene, so hat Alan Turing gezeigt, kann man sehr viele Vorgänge als Operationen eines abstrakten Computers beschreiben: „im Prinzip“ als eine Berechnung. Wenn man aber sagt „Das Gehirn arbeitet WIE ein Computer“, heisst das nicht „Das Gehirn IST ein Computer“.
Hirnforscher – Esel am Berg
In Voltaires „Wörterbuch der Philosophie“ (Willensfreiheit) lesen wir den formidablen Satz: „Von der Entstehung der Ideen weiss ich ebensowenig wie von der Entstehung der Welt.“ Noch heute stehen die Hirnforscher wie der Esel am Berg, wenn es um die Frage geht, wie die Neurophysiologie Bewusstsein erzeugt. In einem dunklen Raum, sagt das Bonmot, sind schwarze Katzen schwierig zu erkennen – besonders wenn es darin keine Katzen hat. Es kommt einem mitunter so vor, als befänden sich die Hirnforscher im dunklen Raum ihrer Disziplin und suchten nach der schwarzen Katze des Bewusstseins, ohne sich über deren Existenz sicher zu sein. Der Philosoph David Chalmers hat deshalb vom „harten Problem“ des Bewusstseins gesprochen: Wie entsteht Bewusstsein aus den komplexen Algorithmen unserer Gehirnprozesse? Handelt es sich überhaupt um Algorithmen? Denn wenn man dermassen Mühe bekundet, das Gehirn als Rechenmaschine zu begreifen, könnte das nicht daran liegen, dass es gar keine solche Maschine ist? Die Neurowissenschafter verwerfen die Hände. Niemand weiss es. Ganz am Schluss des Buches schreibt Harari verstohlen: „Vielleicht finden wir aber auch heraus, dass Organismen gar keine Algorithmen sind.“ Wer hätte sich das gedacht? Wie aber bringt Harari das in Einklang mit der vollmundigen Behauptung, dass „jedes Tier – einschliesslich der Homo sapiens – eine Sammlung organischer Algorithmen ist, geformt durch natürliche Selektion über Jahrmillionen der Evolution“?
Neuronale Netzwerke – zuviele Verheissungen
Damit sprechen wir die zweite Prämisse und die Konklusion an. Wir können immer mehr menschliche Kompetenzen an künstliche Systeme delegieren, welche uns in begrenzten Bereichen auch schon übertreffen. Künstliche Intelligenz ist eine hochgradig beschränkte, eine „autistische“ Intelligenz. Seit über einem halben Jahrhundert suchen Computerwissenschafter, Informatiker und Kognitionstheoretiker nach dem „General Problem Solver“, einem universellen Lern-Algorithmus, der künstliche Systeme befähigen würde, wie Kleinkinder auf der Basis vorgängiger Erfahrungen Neues zu lernen. Dabei nehmen sie sich auch das organische Gehirn zum Muster. Zurzeit sind Deep Learning und neuronale Netzwerke die Hotspots. Was sie auch schon zustande bringen, ihre Algorithmen sind beschränkt lernfähig, ihre Lösungen sehr aufgabenspezifisch. Einer der heute führenden Forscher auf diesem Gebiet, der Informatiker Michael Jordan, schreibt:
„Es gibt durchaus Fortschritte in den untersten Stufen der Neurowissenschaften. Aber was das Thema höherer Kognition betrifft – Wahrnehmung, Erinnerung, Handeln – , so haben wir keine Idee, wie die Neuronen Information speichern, berechnen, repräsentieren (...), welche Algorithmen im Spiel sind (...). Wir befinden uns also noch nicht in einer Ära, in der das Verständnis des Gehirns uns in den Konstruktionen künstlicher Intelligenz leiten könnte.“
Ein verführerischer Plot
Ich stelle mir vor, Harari hatte die Eingebung für ein Szenario: Was wäre, wenn die Methoden der Computerwissenschaften und Statistik zu erkenntnistheoretischer Hegemonie gelangen und uns als Forschungsdogma beherrschen würden? Es ist eine fesselnde Eingebung, die bestehende Tendenzen extrapoliert. Für einen Erzähler also ein reizvolles Fressen, einen fiktiven Plot in die Zukunft zu verfolgen. Aber Harari geht es nicht einfach um eine Fiktion, er schreibt – so paradox das klingen mag – eine noch nicht geschehene Geschichte der Zukunft. Einem Historiker aber, der um der Überzeugungskraft seiner Vision willen so viel festmacht am Schlüsselbegriff des Algorithmus, stünde die kritische Frage gut an, wie weit denn die Metapher des Algorithmus überhaupt tragfähig sei.
Die neue „Religion“
Man weiss bei Hariri nicht so recht, ob er selber nun an die Verheissungen des Dataismus glaubt. Er warnt vor der „Religion“ des Dataismus, scheint aber dessen Maulheldentum unkritisch für bare Münze zu nehmen:
„Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle verspricht (der Dataismus) (...) den Heiligen Gral zu liefern, der uns seit Jahrhunderten versagt bleibt: eine einzige übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Glaubt man dem Dataismus, so sind Beethovens Fünfte Symphonie, König Lear und das Grippevirus nur drei Muster des Datenstroms, die sich mit den gleichen Grundbegriffen und Instrumenten analysieren lassen. Diese Vorstellung ist ungeheuer attraktiv. Sie verschafft allen Wissenschaftlern eine gemeinsame Sprache, überbrückt akademische Gräben und erleichtert den Export von Erkenntnissen über Fächergrenzen hinweg. Musikwissenschaftler, Ökonomen und Zellbiologen können sich endlich gegenseitig verstehen.“
Dataismus ist keine Theorie, sondern eine konfuse Verheissung
Wenn das nicht satirisch gemeint ist, dann fragt man sich, aus welcher Quelle des Dataismus Hariri solchen Unsinn denn abzapft. Und der Verdacht richtet sich auf eine ganz bestimmte Quelle: Hariri selbst. Als Historiker hätte er besser daran getan, einen Blick in die letzten fünf oder sechs Jahrzehnte intensiver wissenschaftstheoretischer Diskussion und wissenschaftshistorischer Forschung zu werfen; einen Blick, der ihn schnell aufgeklärt hätte, dass der Traum einer einheitlichen Theorie doch eher „ungeheuer“ naiv als attraktiv ist, selbst unter Physikern, wo er nach wie vor seine Anhänger hat. Natürlich finden sich heute praktisch in allen Disziplinen „dataistische“ Ansätze – in den einen ausgeprägter als in den anderen. Daraus die Entwicklung eines universellen „Paradigmas“ zu folgern, verrät wenig Verständnis für die Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen. Dataismus ist nicht der Heilige Gral. (Wer, sapperlot, hat Hariri diesen Floh ins Ohr gesetzt?) Zudem ist Datenanalyse eine Methode, nicht eine Theorie.
Historiker, bleib bei deinem Leisten
„Homo deus“ weist auf ein tiefes Grundproblem unserer Ära hin: das Überhandnehmen des rechnerischen Geistes – eine Epidemie der Beschränktheit. Eine Kritik der algorithmischen Vernunft wäre deshalb an der Zeit. Gewiss, Dataismus ist nur ein mögliches Zukunftsszenario, und Harari beeilt sich am Schluss, dies zu betonen. Aber vielleicht ist es hier schon zu spät. „Statt unsere Horizonte durch die Prophezeihung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt.“ – Ach ja? Und welche Möglichkeiten? Wenn man uns über 500 Seiten lang das Szenario vom unaufhaltsamen Vormarsch der Algorithmen ausgemalt hat, dann klingt eine solche Bemerkung einigermassen verwedelnd, um nicht zu sagen widersprüchlich. Hariri ist Historiker, nicht Naturwissenschafter, Informatiker oder Philosoph. Aber mit seinem Thema bleibt er unweigerlich in den verzwicktesten Problemnestern dieser Gebiete hängen. Und er hätte sich besser von den wirklich ernstzunehmenden Denkern informieren lassen, statt von Big-Data-Grossmäulern. Aber dann wäre sein Popanz des Dataismus schnell in sich zusammengefallen. – Und aus der Traum eines Bestsellers.