Die Zukunft Chinas wird transparenter.
Nachdem Peking die Veröffentlichung der neuesten Zahlen der im November und Dezember durchgeführten Volkszählung zweimal aus technischen Gründen verschoben hatte, begann im Westen das Werweissen. Die renommierte «Financial Times» prognostizierte mit Hinweis auf «glaubwürdige Quellen» einen Rückgang der chinesischen Bevölkerung. Die Copy-paste-Medien in Europa und Amerika verbreiteten das Gerücht trotz eines sofortigen Dementis des Nationalen Statistikbüros in Peking. Den chinesischen Statistiken, so der Grundton der China-kritischen Kampagne im Westen, sei ohnehin nicht zu trauen.
Präzision und Professionalität
Was die Volkszählungen betrifft, kann sich das Reich der Mitte immerhin auf eine mehr als zweitausendjährige Tradition berufen. Heute gehört China bei der Erhebung des Zensus zu den modernsten Nationen der Welt. Die Statistiken haben im Übrigen seit Beginn der Reform 1980 an Präzision und Professionalität gewonnen und können sich durchaus mit den modernsten westlichen Staaten messen. Zu Maos Zeiten zwischen 1949 und 1976 allerdings wurden Statistiken für politische Zwecke missbraucht. Beim Grossen Sprung nach Vorn (1958–61) etwa mit der katastrophalen Hungersnot mit je nach Schätzung 35 bis 45 Millionen Toten wurden Rekordernten nach oben gemeldet mit dem Resultat, dass China Getreide und Reis ins Ausland exportierte.
Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping half dann in den ersten Reformjahren der Erkenntnis zum Durchbruch, dass ein moderner Staat ohne möglichst präzise Daten nicht zu führen sei. In den 1990er-Jahren brachte dann der beliebte Premier Zhu Rongji Chinas Statistik auf den neuesten Stand.
«Mildes Wachstum»
Die Volkszählung 2020 brachte nichts grundlegend Neues zutage, sondern bestätigte einen seit gut zwei Jahrzehnten sich abzeichnenden Trend. «Ein mildes Wachstum im letzten Jahrzehnt und eine alternde Gesellschaft», so der Chef des Nationalen Büros für Statistik Ning Jigzhe. Bei einer Bevölkerung von jetzt 1,412 Milliarden (2010; 1,34 Mrd) sind 264 Millionen älter als 60 (18,7% der Bevölkerung) und 190,64 Millionen älter als 65 (13,5% der Bevölkerung). Verläuft der Trend weiter so, werden zur Jahrhundertmitte 35% der Bevölkerung oder 435 Millionen über 60 Jahre alt sein. Oder anders ausgedrückt: Kommen heute auf einen Rentner zwei Arbeitende, wird das Verhältnis 2050 1:1 sein.
Im März bereits hat die Regierung angekündigt, das Rentenalter für Männer, derzeit 60, und für Frauen, derzeit 55, langsam anzuheben. Insgesamt eine knifflige Aufgabe für die Regierung, denn was die Renten betrifft, ist China im Gegensatz zu den Industriestaaten zunächst arm und dann erst womöglich reich.
Neugeburten rückläufig
«Die arbeitende Bevölkerung», so der Chef des Nationalen Büros für Statistik, «nimmt Jahr für Jahr langsam ab.» Beim Zensus 2020 waren es noch 894 Millionen oder 6,79% weniger als 2010. Die unter 14 Jahre alten nahmen hingegen gegenüber 2010 mit plus 1,35% leicht zu und machen mit 253 Millionen 17,95% der Gesamtbevölkerung aus. Die Neugeburten sind seit fünf Jahren stark rückläufig. 2016 wurden noch 18 Millionen gezählt, 2017 17 Mio, 2019 14,65 Mio und 2020 noch 12 Mio.
Der chinesische Sozialwissenschaftler Liang Jianzhang meint dazu: «Ohne starke politische Intervention werden Chinas neue Geburten wahrscheinlich unter 10 Millionen fallen, mit einer Fruchtbarkeitsrate tiefer als in Japan und vielleicht die tiefste auf der Welt.» Chinas Fruchtbarkeitsrate betrug nach dem Zensus 2020 1,3 Kinder pro Frau (Japan 1,39, Europa 1,5).
2100: Noch eine Milliarde Chinesen
Doch auch eine höhere Fruchtbarkeitsrate wird China nicht mehr zum Wachsen bringen. Nach Schätzungen von chinesischen Sozialwissenschaftlern wird China in fünf bis sieben Jahren den Bevölkerungshöhepunkt erreichen und danach bis 2050 auf 1,364 Milliarden und bis zum Jahrhundertende auf 1 Mrd. sinken. Im Uebrigen sind fallende Geburtenraten seit der ersten industriellen Revolution vor 250 Jahren eine unausweichliche Folge des wirtschaftlichen Wachstums. Das war im Westen, Südkorea oder Japan so, und so ist es bereits jetzt in China.
Temporäre Ein-Kind-Familienpolitik
Die Ein-Kind-Familienpolitik, die 2016 aufgegeben wurde, soll nach westlichen Kommentaren die Wurzel allen Übels sein. Das ist natürlich Unsinn. Schon zu Maos Zeiten wurde Familienpolitik betrieben, aber sehr uneinheitlich und nicht konsequent. Mao selbst sprach sich während der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966–76) gar für mehr und mehr Chinesinnen und Chinesen aus. In diesem Zusammenhang bezeichnete er Amerika als «Papiertiger», weil bei einem Angriff mit Atombomben China der grossen Bevölkerung wegen nicht zu besiegen wäre.
Deng Xiaoping dagegen führte 1980 die Ein-Kind-Familienpolitik ein mit der Begründung, das wirtschaftliche Wachstum für alle zu sichern. Ohne Ein-Kind-Familie, so chinesische Sozialwissenschaftler, zählte heute China 250 bis 400 Millionen mehr Chinesinnen und Chinesen. Unschwer sich vorzustellen, was das für die Wirtschaft und den Wohlstand bedeuten würde.
Die Volkszählung 2020 bietet darüber hinaus unzählige wichtige Hinweise auf den derzeitigen Zustand des Reichs der Mitte. Auch ein Blick in die Zahlen der Provinzen mag sich lohnen, nicht zuletzt auch, dass die Minoritäten – ja auch und gerade die Uiguren-Bevölkerung – in den letzten zehn Jahren gewachsen sind.
Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung:
1949: 540 Mio, Zensus 1953: 583 Mio, Zensus 1964: 695 Mio,
Zensus 1982: 1,008 Mrd, Zensus 1990: 1,14 Mrd,
Zensus 2000: 1,25 Mrd. Zensus 2010: 1,34 Mrd,
Zensus 2020: 1,412 Mrd
Prognose 2050: 1,364 Mrd, Prognose 2100: 1 Mrd
Lebenserwartung: 1949: 35 Jahre, 2020: 77 Jahre