Journalismus in der Provinz hat häufig zwei Schwächen. Es fehlt an qualifizierten Autorinnen und Autoren. Und deren Nähe zu Politikerinnen und Politikern kann die Qualität zusätzlich beeinträchtigen. Ein aktuelles Beispiel ist die Berichterstattung und Haltung des Online-Mediums Zentralplus in einer Auseinandersetzung über den Doppelten Proporz, der auch Doppelter Pukelsheim genannt wird. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist ein scheinbarer Widerspruch zwischen Sitzverteilung und Stimmenanteilen bei den Kantonsratswahlen vom 7. Oktober 2018.
Verzerrte und gewichtete Zahlen
Wie in anderen Kantonen verfolgt der Doppelte Pukelsheim auch im Kanton Zug zwei Ziele: Proportionale Verteilung der Mandate und Bewahrung historischer Wahlkreise. Im Kanton Zug sind das die elf Gemeinden. In einem ersten Schritt werden die sogenannten Parteistimmen aller Gemeinden zusammengezählt. Da beispielsweise meine Gemeinde Baar über 15 Sitze und die Nachbargemeinde Steinhausen über 6 Sitze verfügt, hat ein Baarer Wähler 15 Stimmen und eine Steinhauser Wählerin bloss deren 6. Damit jede wählende Person gleich gewertet wird, werden in einer zweiten Rechnung die Summen jeder Gemeinde durch die Anzahl Sitze geteilt. Die gewichtete „Wählerzahl“ bildet die Parteienstärke genau ab: CVP 21, SVP 18, FDP 17, Alternative – die Grünen (ALG) 11, SP 9, Grünliberale 4.
Dass Parteien, die bei der ersten – gemeindlich verzerrten – Summierung stärker scheinen als bei der gültigen zweiten, sich als erfolgreicher wähnen, als sie in Wirklichkeit waren, ist nachvollziehbar. Bedenklich ist es, wenn sie nach wissenschaftlicher Belehrung darauf beharren, stärker zu sein, als die bereinigten Zahlen zeigen. Besonders bedenklich ist es aber, wenn ein Medium zuerst die falschen Zahlen bringt und später behauptet, es sei Ansichtssache, welche die gültigen seien. Genau das ist „Zentralplus“ passiert. Und es hat diese mathematisch-wissenschaftlich unhaltbare Haltung bis heute nicht korrigiert.
Am 9. Oktober, zwei Tage nach den Wahlen, veröffentlichte „Zentralplus“ die falschen Zahlen, welche die FDP als praktisch gleich stark wie die CVP und die SP als stärker denn die Alternativ – die Grünen darstellten. Die Zahlen schufen über den Kanton hinaus etliche Verwirrung, weil sie nicht den in den Medien publizierten Sitzzahlen entsprachen. Aufgrund kritischer Einwände publizierte „Zentralplus“ am folgenden Tag die korrekten Zahlen und gleichzeitig die diesen widersprechende Aussage der SP-Präsidentin, „die grösste linke Kraft“ zu sein. Am Schluss des Textes setzte die Redaktion die gemeindlich verzerrten „Parteistimmen“ gleich mit den gewichteten und damit gültigen Wählerzahlen.
Rätselhafte Berufung auf die Staatskanzlei
Daraus entwickelte sich eine aufschlussreiche Twitter-Diskussion zwischen dem ehemaligen Zuger Nationalrat Josef Lang sowie den drei Politologen Daniel Bochsler, Claudio Kuster und Philipp Koch einerseits und der Zentralplus-Redaktion andererseits. Jene erklärten, warum nur die gewichteten Zahlen, welche die gemeindliche Verzerrung korrigieren, aussagekräftig seien. Die Redaktion von Zentralplus zog sich auf den relativistischen Standpunkt zurück: „Gysel und Staatskanzlei haben eine Sicht, ALG eine andere.“ (Tweet vom 10.10.2018) Bis heute ist unklar, wie Zentralplus auf die Behauptung kam, die Staatskanzlei, welche die Stimmen und Sitze berechnet hatte, vertrete dieselbe unhaltbare Position wie die SP-Präsidentin.
Am 13. Oktober wurde die Staatskanzlei in einem umfassenden Artikel dann direkt und korrekt zitiert: „Die gewichteten Wählerzahlen bilden die Parteistärken genau ab.“ Aber in keinem Wort wurde erwähnt, dass die Redaktion kurz zuvor eine andere Position der Staatskanzlei verbreitet hatte, ohne bei dieser angefragt zu haben. Vor allem beharrte Zentralplus weiterhin auf der Position, dass die Wahl zwischen den offiziell gültigen und den offiziell dementierten Zahlen eine blosse Parteisache sei: „Beide Seiten sind versucht, jene Berechnungsmethode heranzuziehen, die für sie das günstigere Ergebnis liefert.“
Professor Pukelsheim ist schuld
Immerhin kamen im Artikel alle Seiten zu Wort. Dem FDP-Präsidenten und der SP-Präsidentin fiel es weiterhin schwer, das Ergebnis als gerecht und proportional anzuerkennen. Sie stellten zwar die Korrektheit der Zahlen nicht mehr in Frage, aber die Korrektheit der mathematisch stringenten Berechnungsmethode. Andreas Hofstetter von der FDP stellte sich die Frage, „ob das angewandte System eine demokratisch faire Wahl ermöglicht“. Die SP-Präsidentin beharrt weiterhin darauf, dass ihre Partei „die linke Nummer 1 sei“. In anderen Worten: Nicht die Wählenden seien verantwortlich für die geringere Sitzzahl, sondern der deutsche Professor Friedrich Pukelsheim.
Ansichtssache?
In einer Zeit, in der wissenschaftliche Erkenntnisse leichtfertig subjektiven Überzeugungen gleichgesetzt werden, ist es bedenklich, wenn sogar Parteien, die sich auf die Aufklärung berufen, mathematische Ergebnisse in Frage stellen, nur weil sie ihnen nicht passen. Besonders bedenklich ist es aber, wenn ein Informations-Medium die Richtigkeit mathematisch berechneter Zahlen zu einer blossen Ansichts-Sache macht. Der Politikwissenschaftler Fritz Sager schreibt in „Die Zeit“ vom 19. Oktober 2018: „Wenn Wissen verhandelbar wird, erübrigen sich Argumente in der politischen Debatte, da jede Seite sich auf ihre eigene Vorstellung von Wissen stützt. Wissen wird mit Überzeugung gleichgesetzt und ist damit nicht mehr widerlegbar.“
Was für Parteien ein Soll ist, ist für Medien ein Muss: Wissenschaftliche Ergebnisse, erst recht mathematische Berechnungen, haben nicht die gleiche Gültigkeit wie die Einwänden von Instanzen, denen das Erkenntnisvermögen oder das Erkenntnisinteresse fehlt.
* Hanspeter Uster war von 1990 bis 2006 als Regierungsrat im Kanton Zug Justiz- und Polizeidirektor. Er ist Gründungsmitglied der Alternative – die Grünen ALG.