Sergej Sergejitsch lebt in einem verlassenen Dorf im Donbass in der Ostukraine in der Nähe der Stadt Donezk, die seit 2014 von Separatisten kontrolliert wird. Sergejs Dorf gehört zur sogenannten grauen Zone, die zwischen den Frontlinien im Kampf zwischen den von Putins Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee liegt. Weil das Leben auch in dieser Zone gefährlich ist, haben ausser Sergej und seinem früheren Jugendfeind Paschka alle Bewohner das Dorf verlassen. Auch Sergejs Frau Witalina ist schon länger mit ihrer Tochter weggezogen. Es gibt keinen Laden, keinen Strom und folglich auch kein Fernsehen im Dorf.
Ausflug aus der grauen Zone
Sergejs Leidenschaft und sein eigentlicher Lebenssinn sind seine Bienen. Auf seinen Bienenstöcken lässt er für gutes Geld gelegentliche Besucher schlafen, weil das sehr gesund und beruhigend sein soll. Im Dorf hört man den Geschützdonner der Kriegsparteien, doch die Kämpfe selber finden ausserhalb der grauen Zone ab.
Als es Frühling wird, lädt Sergej seine sechs Bienenstöcke auf einen Anhänger und fährt mit dem Auto in ein weiter entferntes Dorf, in dem es noch einen Laden und Busverbindungen gibt. Er schlägt ausserhalb des Dorfes sein Zelt auf und lässt seine Bienen zum Nektar sammeln ausfliegen. Die gutmütige und liebesbedürftige Ladenverkäuferin Galja versorgt ihn grosszügig mit Lebensmitteln. Doch ein vom Krieg traumatisierter ehemaliger Soldat schlägt ihm die Scheiben seines alten Autos ein.
Sergej zieht mit seinen Bienen weiter auf die Krim, die Russland vor fünf Jahren von der Ukraine annektiert hat. Er beabsichtigt, dort einen früheren Imker-Kollegen zu besuchen. Er erfährt aber von dessen tatarischer Familie, dass der Kollege von «Kosaken» entführt wurde, man findet später nur noch seine Leiche. Sergej kampiert wiederum am Stadtrand mit seinen Bienen, deren Geschäftigkeit in der milden Frühlingsluft er aufmerksam beobachtet. Er vergleicht die «Weisheit der Natur» mit dem Leben der Menschen «und kam zu dem Schluss, dass die Menschen einpacken konnten».
«Putin lügt nicht»
Eine russische Krim-Bewohnerin, zu der Sergei bei einem Gespräch äussert, eigentlich gehöre die Halbinsel dem Volk der Tataren, entgegnet ihm barsch, Putin habe doch gesagt, die Krim sei «immer russisch» gewesen, und «Putin lügt nicht».
Schliesslich zieht es Sergej doch wieder in sein verlassenes Heimatdorf in der grauen Zone. Er lädt die Bienenstöcke erneut auf seinen Anhänger und fährt mit seinem Auto ohne Windschutzscheibe von der russisch besetzten Halbinsel zurück in den Donbas.
Diese lakonische Geschichte erzählt der ukrainische Autor Andrej Kurkow, der in Kiew wohnt und in russischer Sprache schreibt, in philosophisch abgeklärtem Stil, gewürzt mit einer Prise schwarzen Humors und viel Sinn für das ironische Detail. Einiges an diesem Buch erinnert an seinen erfolgreichen Debut-Roman «Picknick auf dem Eis».
Vertrauen in die Weisheit der Natur
Der blutige Konflikt in der Ostukraine, der bisher über 13’000 Tote gefordert und Hunderttausende von Einwohnern zu Flüchtlingen gemacht hat, rückt kaum je ins nähere Blickfeld. Und doch ist dieses tragische Geschehen der aktuelle Hintergrund, der das Leben des einfachen ukrainisches Dorfbewohners Sergej bestimmt. Erträglich und manchmal sogar glücklich macht ihn die Liebe zu seinen Bienen, von denen er lernt, sich aus destruktiven Händeln herauszuhalten und stattdessen der «Weisheit der Natur» zu vertrauen.
Kurkows Donbas-Roman unterscheidet sich deutlich von der Erzählung «Internat» seines jüngeren ukrainischen Kollegen Serhij Zhadan, die dieser vor einem Jahr vorgelegt hat. Zhadan beschreibt den halb vergessenen Krieg in der Ostukraine für die betroffene Bevölkerung als alptraumhaftes Inferno von dumpfen Gefährdungen zwischen verschwommenen Frontlinien, innerer Zerrissenheit und Verzweiflung. In dieser Intensität mag dieses Werk stärker unter die Haut gehen als Kurkows eher beschauliche Erzählung von den Erlebnissen des Bienen-Züchters Sergej, der bei allen Gefährdungen seine stoische Ruhe kaum je verliert. Eine straffere Handlung hätte seinem Roman gut getan.
Selenski weckt neue Hoffnungen
Kurkow ist indessen kein unpolitischer Autor. Während des Kiewer Maidan-Aufstandes gegen das prorussische Janukowitsch-Regime vor fünf Jahren hat er sich klar für die Anliegen der Protestbewegung und für die Ablösung der Ukraine aus dem russischen Dunstkreis geäussert. Bei einer Vorstellung seiner «Grauen Bienen» im Literaturhaus Zürich bezeichnete er sich dieser Tage als «pathologischer Optimist». Seine ursprüngliche Skepsis gegenüber dem im Mai gewählten neuen ukrainischen Präsidenten Selenski ist inzwischen einer wachsenden Hoffnung gewichen, dass wieder Bewegung in die starren Fronten des Donbas-Krieges kommen könnte. Der erst vor einer Woche zustande gekommene Austausch von je 35 Gefangenen zwischen der Ukraine und Russland beurteilt Kurkow als inspirierenden Erfolg des jungen Präsidenten.
Andrej Kurkow: Graue Bienen, Diogenes, Zürich 2019, 445 S.