Es gibt in der Lombardei und im Piemont zahlreiche Sacri Monti, heilige Berge, wie die mit aufwändigen Kapellen bestückten Wege heissen, die Pilger zu den verschiedenen prunkvollen Visualisierungen der Lebensstationen von Jesus, Maria und Franziskus geleiten. Von diesen Anlagen gehören seit 2003 deren neun zum Weltkulturerbe der Unesco. Sie befinden sich in Varallo, Orta, Varese, Oropa, Crea, Ossuccio, Ghiffa, Domodossola und Belmonte.
Teilweise wurde an solchen Orten lange gearbeitet. Varallo, mit 45 Kapellen auch der monumentalste Sacro Monte, ist Ende des 15. Jahrhunderts begonnen und erst gegen 1650 vollendet worden. Die meisten Komplexe wurden im 16. und 17. Jahrhundert realisiert und dienten vor allem der Gegenreformation dazu, ein mächtiges Bollwerk gegen den neuen Glauben zu setzen. Ein wichtiger Förderer war der Mailänder Kardinal Carlo Borromeo (1538–1584), der unermüdlich an vielen Fronten den Kampf gegen das drohende Überschwappen der Reformation über die Alpen focht. In der Tat konnte sich der Katholizismus südlich der Alpen behaupten. Was zu diesem Erfolg beigetragen hat, ist natürlich nicht klar herauszuschälen, aber vermutlich haben die Sacri Monti das ihrige zur Abwehr der protestantischen Bewegung beigetragen.
Man fragt sich heute, wie diese Anlagen finanziert werden konnten. Offensichtlich war der Druck auf die Adligen und die kirchlichen Institutionen derart, dass diese sich den Bemühungen für die Errichtung der Glaubenszeugnisse in Stein nicht entziehen konnten. Die Anlagen sind die Resultate einer Zusammenarbeit von Theologen, Architekten, Bildhauern und Malern. Es galt, das Bildprogramm zu bestimmen und hierfür die adäquaten Räume zu gestalten. Die Liste der beteiligten Baumeister und Künstler enthüllt keine vertrauten Namen, und doch brauchen die Inszenierungen den Vergleich mit den berühmten Barockkirchen in den christlichen Metropolen nicht zu scheuen.
Mitte des 20. Jahrhunderts befanden sich die meisten Sacri Monti in einem desolaten Zustand. Nur wenige Kunsthistoriker von Rang wiesen in ihren Studien auf diese ganz speziellen Artefakte hin. Adolf Reinle, Denkmalpfleger des Kantons Luzern und späterer Ordinarius an der Universität Zürich, war einer der ersten nördlich der Alpen, der die heiligen Berge 1976 in seinem Buch «Zeichensprache der Architektur» in einem umfassenden Kapitel beschrieb.
1980 fand in Varallo der erste Kongress zu diesem Thema statt und seither wurde die Forschung über diese faszinierenden Gesamtkunstwerke intensiviert. Gleichzeitig begann man mit den dringlich notwendigen Renovationsarbeiten. Sie sind längst nicht abgeschlossen, aber mit der Aufnahme der neun wichtigsten Komplexe in das Unesco-Weltkulturerbe hat man sich zur Bewahrung der Stätten verpflichtet.
Varallo, Orta, Varese – die drei aufwändigsten Sacri Monti
Der Ort Varallo liegt abseits der grossen Achsen versteckt im Tal des Flusses Sésia. Der dazu gehörende Sacro Monte wurde auf einem schmalen Plateau hoch über dem Tal errichtet. Und im Unterschied zu den meisten anderen handelt es sich hier nicht um einen Kapellenweg, sondern um ein stadtähnliches Gebilde, das statt Wohnhäusern Gebäude mit den Figurenensembles aufweist. Explizit wollte man so etwas wie eine Paraphrase von Jerusalem nachbilden. Man schreitet von einer Inszenierung zur anderen, mal unter einem Arkadengang, mal den Gebäudezeilen entlang, die einen grossen Platz umfrieden.
Höhepunkt ist die monumentale Wallfahrtskirche, die einer Kathedrale gleich alle Bauten überragt. Insgesamt wird das Leben Jesu, von der Verkündigung bis zur Auferstehung, in 45 Standbildern ausgebreitet. Teilweise sind es sehr intime, nur mit wenigen Statuen ausgestattete Interieurs, teilweise gewaltige Räume mit einer Überfülle an Figuren. Wie bei den anderen Sacri Monti entdeckt das Auge nebst den zentralen religiösen Motiven Nebenschauplätze, die vom Alltag zeugen, streunende Hunde, spielende Kinder oder Frauen, die mit Handarbeit beschäftigt sind, reich gedeckte Tafeln und vieles mehr.
Nur wenige Kilometer Luftlinie östlich von Varallo, aber ungleich leichter erreichbar, befindet sich das malerische Dörfchen Orta am Ufer des gleichnamigen Sees und angeschmiegt an die Erhebung, auf der ein ganz anders gearteter Sacro Monte entworfen wurde. Federführend waren die Kapuziner, die auf dem relativ flachen und bewaldeten Gelände zwischen 1590 und 1788 20 Kapellen für die Darstellung des Lebens ihres Ordensgründers Franziskus verteilten. Jede Kapelle ist als eine Arte Idealkirche konzipiert, sodass man so etwas wie eine Musterkollektion möglicher Bautypen vorgeführt bekommt. Nebst den plastischen Inszenierungen spielt die Malerei eine grosse Rolle. Einige Kapellen besitzen Vorräume, deren Wände mit Fresken, die zusätzliche Einblicke in das Leben von Franziskus gewähren, überzogen sind.
Oberhalb von Varese markiert ein Tor den Anfang des Kapellenweges, der steil ansteigend im Ort Santa Maria del Monte endet, der auf fast 900 m ü. M. wie ein Adlerhorst wirkt. Je fünf Kapellen stehen für die insgesamt 15 Rosenkranzgeheimnisse, die seit der Renaissance ein wichtiger Bestandteil der Marienverehrung sind. Architektonisch sind die im 17. Jahrhundert gebauten Kapellen von allen Sacri Monti die ausgefeiltesten. Unter den Standbildern besonders berührend ist die Verkündigung Mariens, während medizinisch Interessierten die zahlreichen Personen mit Kropf (sie verkörpern – wen verwundert es – Bösewichte) auffallen dürften. Zeugen einer Phase mit extremem Jodmangel.
Die weniger bekannten Pilgerstätten
Lohnenswert ist ferner der Besuch des Sacro Monte von Domodossola, dessen Weg mehr oder weniger vom Zentrum der Stadt zur Wallfahrtskirche hinaufführt. Von dort hat man einen sagenhaften Blick auf Stadt und Umgebung. Allerdings benötigen Kapellen und Figurenzyklen eine Auffrischung. In Bezug auf Figurenreichtum kann es der Sacro Monte in Crea beispielsweise mit demjenigen von Orta aufnehmen; weniger phantasievoll hingegen sind die baulichen Hüllen. Speziell ist der Sacro Monte von Oropa, der zwar vom monströsen Wallfahrtskomplex regelrecht erdrückt wird, dessen auf einer Wiese aufgereihte Kapellen reizvoll in die alpine Landschaft gebettet sind. In der Schweiz gelten die Andachtswege in Locarno und in Brissago als Sacri Monti, obwohl die Ausstattung ungleich bescheidener ist als die Vorbilder in Italien.
Im Grunde sind die Grenzen zwischen einem echten Sacro Monte und einem Kreuzweg mit Bildstöcken, so wie dies in der Alpenregion häufig anzutreffen ist, schwer zu bestimmen. Und manchmal wagen zeitgenössische Kunstschaffende eine Neuinterpretation, so etwa am Weg hinauf zur Wallfahrtskirche Hergiswald ob Kriens, wo der Obwaldner Bildhauer Kurt Sigrist 2009 zusammen mit dem St. Galler Maler Franz Wanner 20 Stelen mit Darstellungen zum Thema Rosenkranz gesetzt hat.