Karl Grob studierte in Zürich Germanistik, Geschichte und Komparatistik. 2000 wurde er Mitherausgeber der historisch-kritischen Keller-Ausgabe (HKKA), für die er bis zu deren Abschluss 2013 arbeitete.
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Ich erinnerte mich an die etwas „gstabige“ und leicht pathetische Erzählung Gottfried Kellers „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, als ich vor einigen Tagen las, dass die Mehrheit unserer Volksvertreter in beiden Räten dafür plädierte, dass Terroristen, die ihre Strafe abgesessen haben, aber weiterhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit sind, auch an Länder ausgewiesen werden können, in denen ihnen Folter oder gar die Todesstrafe drohen. Unter der Voraussetzung, dass das blutige Geschäft des Henkers ein anderes Land übernehmen würde und sie sich die Hände dann in Unschuld waschen könnten, schliessen sie also die Todesstrafe nicht aus.
Das „Fähnlein“ ist die Geschichte einer verschworenen Gruppe von sieben Männern, denen es ohne die Mithilfe der nächsten Generation nicht gelingen will, sich in dem Staate zu integrieren, den sie selbst mitgeschaffen haben. Im Grunde ist es die ewige Geschichte der Revolutionäre, die die Schalen des Eis, das sie selbst ausgebrütet haben, nicht mehr loswerden und – in der Regel – dabei das entstehende Kind fressen. Sie zerstören damit sich selbst und ihre schönen Ziele. Nur, in der Geschichte Gottfried Kellers wird dieses fatale Geschehen für einmal durchbrochen, denn es gelingt den Kindern, aus dem Ei zu schlüpfen, ihren Vätern zu entkommen und diese dabei gleichzeitig zu befreien.
Das Gelingen solcher Aktion ist die Voraussetzung dafür, dass der Schneidermeister Hediger sein Gewehr in der Stube lassen und sich künftig auf den von der Armee gestellten Stutzen seines Sohnes verlassen kann.
Doch jetzt, dachte ich weiter, scheint die Hoffnung des Schöpfers dieser Geschichte auf die Magie der Bilder kaputt zu gehen. Er verliess sich – mit einem Lächeln in den Mundecken – darauf, dass schwangere Frauen, denen man schöne Bilder vorhält, auch schöne Kinder bekommen und sich so die Sache zum Guten wendet. Hier nun schien sich mir das offenbare Misslingen dieser Magie zu zeigen. Ich erinnerte mich dabei an einige Zusammenhänge, die wir alle im Laufe der Zeit – in der Hoffnung auf das Gelingen – vergessen haben.
Der Staat, von dem hier die Rede ist, beruht auf einem Vertrag, einer freiwilligen Übereinkunft seiner Schöpfer, mittels Eid beschworen – er ist eben eine „Eidgenossenschaft‘. Dieses Verfahren beschrieb im Grundsatz auch der aus seiner Republik ausgetretene Genfer Bürger Rousseau in seinem „Contrat social“. Und das Resultat dieses „Contrat social“ nennen wir heute eine Verfassung. Sie erhält ihre Legitimation nicht mehr durch einen Eid, sondern durch eine Volksabstimmung, die den alten Eid ersetzt. Was aber bleibt, ist: Wer gegen diese Verfassung verstösst, ist ein mehr oder weniger gefährlicher Feind dieser Eidgenossenschaft, denn er handelt gegen die Grundlagen ihrer Existenz.
Ebenfalls ging mir bei dieser Gelegenheit durch den Kopf, dass die Verfassung der Eidgenossenschaft in einem wichtigen Punkte nicht dem üblichen dreiteiligen Ordnungsschema einer modernen Republik entspricht, nämlich der Aufteilung in Legislative, Judikative und Exekutive. Ich erinnerte mich an Rousseaus Schwierigkeiten mit dem Gesetzgeber, der inhaltlich letzten Instanz, der sich – Rousseau entnahm hier seinen Begriff aus der Antike – die Stellung eines Gottes erschleichen muss. Er nannte das Usurpation. Vor diesem grundlegenden Problem hatten sich die Väter der neuen Verfassung von 1848 – also der Verfassung, für die Vater Hediger letztlich gekämpft hat – dazu entschlossen, die Legislative und die Judikative für den Bund zusammenzulegen und auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit zu verzichten. Vielleicht gingen sie davon aus, dass ein Volk – also die Genossen der Eidgenossenschaft – seine Legitimität und also auch Existenz als eben diese Eidgenossenschaft verliert, wenn die Mehrheit dieses Volkes oder seine Vertreter nicht mehr gewillt sind, sich an den Vertrag zu halten.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich die nur durch ganz leise Geräusche gestörte Ruhe hörte, mit der diese zwei Entscheide unserer Volksvertreter entgegengenommen wurden.
Ich erinnerte mich auch an ein kleines Büchlein, das ich in meiner Studienzeit bei einem Antiquar in der Kiste vor seinem Schaufenster gefunden und erworben hatte. Es waren die Jugendbriefe des Malers Heinrich Füssli, herausgegeben von Walter Muschg 1942, also in schwierigen Zeiten, in der Sammlung Klosterberg des Verlags Benno Schwabe & Co in Basel. Diesem Büchlein hat Walter Muschg ein Motto aus einem Brief Füsslis von 1765 aus dem Londoner Exil an Lavater vorangestellt: „Die Schweiz ist ein kaum sehbarer Erdeflecken; wenn man ihn sehen soll, so muß er diamantgleich schimmern, und er ist schmutzig, Gott weiß es.“ Und jetzt, wo ich das schreibe, erinnere ich mich auch an die ziemlich instinktlosen „Diamantfeiern“ von 1989 und an das Sonett Kellers von 1846 „Das Eidgenossen-Volk“, das für den Namen dieser Feiern herhalten musste.
Wie ist denn wohl der Diamant entstanden:
Zu unvergänglich alldurchdrungner Einheit,
Zu ungetrübter, strahlenreicher Reinheit,
Gefestiget von unsichtbaren Banden?
Wenn aus der Völker Schwellen und Versanden
Ein Neues sich zu einem Ganzen einreiht,
Wenn Freiheitslieb’ es dann zum Volke einweiht,
Wo Gleichgesinnte ihre Heimat fanden:
Wer will denn da noch rütteln dran und feilen?
Zu spät, zu spät! schon ist’s ein Diamant,
Der nicht mehr ist zu trüben und zu theilen.
Und wenn, wie man im Edelstein erkannt,
Darin noch kleine, dunkle Körper weilen,
So sind sie fest umgossen und gebannt.
Für Keller hat sich in der Hoffnung von 1846 der Schmutz Füsslis auf „kleine, dunkle Körper‘ reduziert, die der Edelstein zu umschliessen und damit zu bannen vermag. In den Gesammelten Gedichten von 1881/82 ändert er den Titel in Eidgenossenschaft und das „unvergänglich“ wird „unzerstörlich“ weil ihm mittlerweile wichtig wurde, dass alles vergänglich ist. Die grundlegende Hoffnung aber geht jetzt eher in Richtung Institution.
Was geschieht denn, so dachte ich weiter, wenn die Struktur des Edelsteins, die seine Härte ausmacht, selbst zerstört wird? Was machen dann die „kleinen dunklen Körper“, wenn die Überreste der Unfreiheit des Ancien Regime wieder an die Oberfläche kommen?
Werden die von der Verfassung vorgesehenen Beschützer aufstehen und sagen: Jetzt erst recht wollen wir auf unseren freiheitlichen Verhältnissen bestehen und zu ihnen Sorge tragen. Und: Wir lassen uns nicht von Befürwortern eines Unrechtsstaates, von religiösen Eiferern etc. von dem Weg abbringen, den wir für richtig halten, und wir bekämpfen nicht nur die, die uns bedrohen mit den für uns legalen Mitteln, wir bekämpfen auch unsere Angst nicht dadurch, dass wir uns denen angleichen, die wir bekämpfen müssen. Also eine mutige Haltung, die uns gerade jetzt ein anderes wirklich betroffenes Volk auf der anderen Seite der Welt zeigt.
Oder wollen wir uns an denen orientieren, die sich da aus dem Edelstein „befreien“, weil sie sich an dem Geruch, der aus ihren Hosen aufsteigt, orientieren und hoffen, dass der sich mit dem ebensolchen Geruch einzelner Wählerinnen und Wähler zur allgemeinen Atmosphäre vereinigt? Und wird es dann vielleicht notwendig werden, dass der Vater Hediger doch noch einmal vor die Türe tritt, weil „keine Regierung und keine Bataillone Recht und Freiheit zu schützen vermögen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Hausthüre zu treten und nachzusehen, was es giebt!“
So dachte ich für mich, als mir das Schweigen in die Ohren dröhnte und ich dabei auch noch vernahm, wie die allgemeinen Lobgesänge auf den Dichter von allen Seiten zunahmen.