Stefan Zweigs Werk ist eine entschiedene, ja polemische Parteinahme für den Humanisten und verfrühten Aufklärer Castellio und eine Abrechnung mit Calvin und seinem gewaltsam errichteten Gottesstaat. Das Genfer Regime brauchte den Vergleich mit der römischen Inquisition in Sachen Grausamkeit nicht zu scheuen.
Gottesstaat Genf
Sebastian Castellio, anfänglich ein Mitstreiter Calvins im Dienste der Genfer Reformation, war als Prediger und Lehrer hoch angesehen. Calvin hatte 1535 seine «Institutio religionis Christianae» publiziert, ein Jahr bevor Farel und seine Mitstreiter in Genf die Reformation ausriefen.
Es brauchte zwei Anläufe, bis Calvin sich auf Bitten und Drängen Farels herbeiliess, von Strassburg nach Genf zu kommen. Dann aber ging er ohne Verzug daran, sich alle theologischen und politischen Instanzen zu unterwerfen und Genf in eine theokratische Diktatur zu verwandeln, getreu seinem Satz in der Institutio: Die Prediger «haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten, sie haben die Satzung Gottes aufzurichten und das Reich des Satans zu zerstören ...».*
In Genf herrschte von nun an die «discipline», Zucht und Ordnung, hochgehalten durch ein System von Überwachung und Denunziation, Folter und Hinrichtung, welches jede Manifestation von Lust, Freude und selbständigem Denken ahndete und das Leben der Bürger kontrollierte bis hinein in die Schlafzimmer. Wer gar an Calvins Satzungen etwas auszusetzen wagte, konnte sein Überleben nur durch Emigration retten, wollte er nicht auf dem Scheiterhaufen enden wie die gegen sechzig Opfer der ersten fünf Jahre des «neuen Jerusalem».
«Dieu m'a fait la grâce de déclarer ce qu'est bon et mauvais», war die Rechtfertigung Calvins. So unmenschlich hart wie gegen seine Mitbürger war der stets kränkliche Reformator auch gegen sich selbst. Sein Leben und seine Gesundheit opferte der Rastlose seinem unbestreitbar immensen Lebenswerk.
Spannungen zwischen grossen Gelehrten
Castellio, der gebürtige Savoyarde, ist nicht nur der französischen und italienischen, sondern auch der deutschen, lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache mächtig, und er zählt schon in jungen Jahren zu den gelehrtesten Männern seiner Zeit. Sein grosses Lebenswerk wird eine Bibelübersetzung ins Lateinische und ins Französische sein.
1540 emigriert er, knapp 25-jährig, aus Frankreich, wo eben die ersten evangelischen Märtyrer verbrannt werden, zu Calvin nach Strassburg, später auf dessen Empfehlung als Schulrektor und Prediger nach Genf. Die erste Verstimmung zwischen den beiden ergibt sich schon bald, als Castellio um die Druckerlaubnis für den ersten Teil seiner Bibelübersetzung nachsucht und Calvin, unterdessen in Genf etabliert, ihn auffordert, sich bei gewissen Abweichungen «zu unserer Meinung zu bekennen».
Castellio lässt sich freilich nicht dreinreden und erkennt bald, dass in Genf kein Platz für einen unabhängigen Geist ist und ihm vonseiten Calvins Ungemach droht. Er gibt seine Rektorenstelle auf und emigriert ein weiteres Mal, zieht es vor, mit seiner kinderreichen Familie viele Jahre lang in bitterster Armut zu leben. Denn wo er auch hinkommt, haben Calvins Warnschreiben die geistlichen und weltlichen Behörden bereits erreicht. Er findet nirgends eine Anstellung.
Castellio seinerseits schildert überall, was ihm durch den Genfer Autokraten widerfahren ist. Dessen Sendboten berichten bei ihrer Rückkehr geflissentlich, was sie zu hören bekommen haben, worauf Calvin in Rage gerät. «Wenn du wüsstest», schreibt er einem Freund, «was dieser Hund – ich meine Sebastian – gegen mich kläfft. Er erzählt, dass er nur durch meine Tyrannei vom Amt gejagt wurde, damit ich allein regieren könne.» Castellio findet schliesslich in Basel eine schlecht bezahlte Korrektorenstelle und übersetzt und verbessert von nun an fremde Texte. Daneben arbeitet er die Nächte durch an seinem Lebenswerk, der Bibelübersetzung, und nimmt sich noch Zeit für Streitschriften und Kommentare zu den brennenden Fragen seiner Zeit.
Der Fall Servet
Die Hinrichtung Servets lässt den Konflikt zwischen Castellio und Calvin in einer neuen Dimension wieder aufflammen. Der Spanier Miguel Servet bestreitet die Dreifaltigkeit Gottes als unvereinbar mit dem göttlichen Wesen, ja als Gotteslästerung. Seine Vehemenz bewirkt, dass er nicht nur im katholischen Frankreich, sondern auch in der reformierten Welt zum Ketzer erklärt wird. Wo immer er auftritt, wird er von den führenden Reformatoren zum Teufel gejagt und ist schliesslich in der ganzen christlichen Welt an Leib und Leben gefährdet.
Unseligerweise wendet er sich vertrauensvoll an Calvin, um diesen für seinen Kampf gegen die Trinitätslehre zu gewinnen. Damit ist sein Schicksal besiegelt. Calvin schreibt an Farel: « ... sollte er kommen, so würde ich, sofern ich noch einigen Einfluss in dieser Stadt habe, nicht dulden, dass er sie lebend verlässt.» Mit der heimlichen Drucklegung seiner Schrift «Restitutio» in Lyon tappt Servet zum ersten Mal in die Falle: Calvins Spitzel haben ihn aufgespürt, und der «protestantische Papst» ist sich nicht zu schade, dem Erzfeind – der katholischen Inquisition – die nötigen Hinweise zur Ergreifung des Gesuchten in die Hände zu spielen.
Eine erste Einvernahme durch den Inquisitor führt aber auf wundersame Weise nicht zu einer Anklage. Es folgt eine zweite Verhaftung und eine Untersuchungshaft, doch gelingt es Servet zu entkommen. Nach einigen Monaten steigt der Unkluge nicht nur in Genf ab, sondern besucht auch eine Predigt Calvins in der Kathedrale. Dieser erkennt ihn, lässt ihn noch in der Kirche ergreifen und in den Kerker werfen. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Calvin lässt nicht locker, bis der Magistrat der Stadt Genf das Todesurteil ausspricht. Mit der prinzipiellen Billigung der übrigen Schweizer evangelischen Gemeinden wird Servet am 27. Oktober 1553 auf dem Platz von Champel bei langsamem Feuer lebendigen Leibes verbrannt.
Calvins Rechtfertigung
Calvins spätere Behauptung angesichts der aufkommenden Kontroverse um die Grausamkeit dieses Aktes, er hätte vergeblich noch versucht, Servet im Gefängnis heimlich «à des sentiments plus saints» zu bekehren und beim Magistrat die mildere Hinrichtungsart durch das Schwert durchzusetzen, ist in keinem Ratsprotokoll dokumentiert. In einer Rechtfertigungsschrift, geschrieben «mit dem Blute Servets auf den Händen», wie Castellio schreibt, schiebt Calvin einerseits die Verantwortung für das Urteil auf den Genfer Magistrat, anderseits aber schreibt er: «Ce n'est pas tyranniser l'Eglise que d'empêcher les écrivains mal intentionnés de répandre publiquement ce qui leur passe par la tête.»
Stefan Zweig dürfte etwa Zwinglis Vorgehen gegen die Wiedertäufer übersehen haben, wenn er schreibt, dass keiner der anderen grossen Reformatoren die Todesstrafe für Häretiker gefordert hätte. Er hält aber fest, dass Melanchton im Namen der Kirche Calvin für diese «gerechte» Tat gedankt habe.
Castellios Anklage
Zwei Jahre vor Servets Hinrichtung hat Sebastian Castellio geschrieben: «Die Wahrheit zu suchen und sie zu sagen, wie man sie denkt, kann niemals verbrecherisch sein. Niemand darf zu einer Überzeugung gezwungen werden. Die Überzeugung ist frei.»
Viele unter den Gelehrten und Theologen in Europa denken wie Castellio, aber sie wagen es nicht, gegen Calvin anzutreten. Und auch Castellio selbst muss vorsichtshalber zu einem Pseudonym und einem falschen Ort der Herausgabe greifen, um mit einigen Gleichgesinnten die Schrift «Ob Ketzer zu verfolgen seien und wie man mit ihnen verfahren solle, dargetan an Gutachten vieler alter wie neuer Autoren» («De Haereticis an sint persequendi ...») zu publizieren.
Seiner Argumentation stellt Castellio die Frage voran, was überhaupt ein Ketzer sei, und kommt zum einfachen Schluss: «Wenn ich nachdenke, was eigentlich ein Ketzer sei, finde ich nichts anderes, als dass wir all jene als Ketzer bezeichnen, die nicht unserer Meinung sind.» Und weiter: «Diese Bezeichnung ist so ... furchtbar, dass, wenn jemand sich eines persönlichen Feindes entledigen will, er einen ganz bequemen Weg hat, nämlich, indem er ihn der Ketzerei verdächtigt.»
Castellio postuliert den Meinungspluralismus: «Die Menschen sind so sehr von (...) der falschen Gewissheit, die sie von ihrer Meinung haben, überzeugt, dass sie hochmütig die andern verachten; aus diesem Hochmut entstehen die Grausamkeiten und Verfolgungen (...), jene wilde und barbarische Lust, Grausamkeiten zu begehen, und man sieht manche heute derart erhitzt durch diese aufreizenden Verleumdungen, dass sie in Wut geraten, wenn einer von denen, die sie hinrichten lassen, zuerst erdrosselt wird und nicht martervoll bei langsamem Feuer verbrannt (...). Und so grausam diese Dinge auch sein mögen, eine noch entsetzlichere Sünde begehen ihre Täter, wenn sie versuchen, solche Untaten mit dem Kleide Christi zu decken, und vorgeben, dass sie damit seinen Willen taten ...»
Castellio mahnt, dass jeder Mensch irren könne, und ruft zu gegenseitiger Toleranz auf. Seine schlichte, unwiderlegbar rationale Argumentation hat ihre Sprengkraft in einer Zeit, da jeder Religionsfürst die Wahrheit für sich gepachtet zu haben glaubt und Zehntausende für ihre Abweichungen gejagt, gehängt, ersäuft, verbrannt werden.
Calvin in der Defensive
Calvin hat frühzeitig von der Schrift Wind bekommen und weiss auch, wer dahinter steckt. Humanität über Autorität? Seine Deutungshoheit ist in Frage gestellt – ein unerträglicher Gedanke! Eilends und ohne das kleine Werk gelesen zu haben, schreibt er die Schweizer Synoden an, um die Verbreitung zu verhindern. Es sei «Gift», dafür einzutreten, dass Häresien und Blasphemien nicht bestraft würden. Man solle dafür sorgen, «dass dieses Unheil sich nicht weiter verbreite.» Und Calvins Intimus Theodor de Beze doppelt nach: «... was bleibt da noch aufrecht von der christlichen Religion, wenn man duldet, was dieser Verworfene (...) ausgespien hat.»
Doch zu spät: Das Büchlein zirkuliert, erreicht schnell auch Genf und provoziert einen Aufschrei. «Bellianismus» ist eine neue Form von Ketzerei – Castellio hat sich als Autor das Pseudonym Martinus Bellius zugelegt. «Seit Beginn des Christentums sind solche Lästerungen nicht gehört worden!», schreibt de Beze und kreiert den berühmt-berüchtigten Satz: «Libertas conscientiae diabolicum dogma» – die Gewissensfreiheit ist Teufelslehre, und die Menschlichkeit eine «charité diabolique et non chrétienne.» Er fordert die zuständigen Behörden auf, sie mögen «tugendhaft mit dem Schwert zuschlagen.» Aus Zürich kommt die Antwort, das Buch werde von alleine vergessen werden, wenn man nicht zuviel Aufhebens darum mache.
Contra libellum Calvini
Da de Beze Castellio wegen des Pseudonyms der Feigheit bezichtigt, fühlt sich dieser herausgefordert, nun an die richtige Adresse zu gelangen. «Contra libellum Calvini» geht auf die Rechtfertigungsschrift Calvins ein und ist eine Anklage gegen denselben wegen Mordes an Michael Servet. «Jehan Calvin erfreut sich heute einer grossen Autorität, und ich wünschte ihm eine noch grössere, würde ich ihn von sanfter Gesinnung beseelt sehen. Aber seine letzte Handlung war eine blutige Hinrichtung und die Bedrohung vieler frommer Menschen (...). Ich verteidige nicht die Thesen Servets, sondern ich greife die falsche These Calvins an.»
Satz für Satz zerpflückt Castellio die Schrift Calvins und stellt die Frage nach dem Vergehen Servets, auf Grund dessen Calvin als geistlicher Führer legitimiert gewesen wäre, die weltliche Behörde zum Aussprechen des Todesurteils zu veranlassen. Castellio geisselt den Unfehlbarkeitsanspruch Calvins: «... darum ist es anmassend, über die Geheimnisse, die Gott alleine gehören, mit solcher Rechthaberei zu streiten, als ob wir teilhätten an seinen verborgenen Plänen, und es ist Hochmut, sich eine Gewissheit über Dinge vorzutäuschen und vorzuspiegeln, von denen wir im Grunde nichts wissen (...). Bist du so sehr von der Armseligkeit deiner Sache überzeugt; befürchtest du so sehr, besiegt zu werden und deine Macht als Diktator zu verlieren?»
Als Killerargument, wie man heute wohl sagen würde, führt Castellio auch hier noch einmal Calvins Satz aus der ersten Ausgabe seiner «Institutio» an, wo sich dieser gegen die Verfolgung Andersdenkender wendet, und schreibt: «Jetzt vergleiche jedermann diese erste Erklärung Calvins mit seinen Schriften und Taten von heute, und man wird sehen, dass seine Gegenwart und seine Vergangenheit voneinander so verschieden sind wie das Licht und das Dunkel ... Er verleugnet die Gesetze, die er selber aufgestellt hat ...»
Schliesslich kommt die Antwort auf de Bezes Vorwurf der Feigheit: «... warum bist du gegen seine Schriften mit Eisen und Schwert vorgegangen? So sag doch, warum hast du dich hinter den Magistrat gesteckt? (...) Die Lehre ist ausschliesslich eine Sache der Gelehrten. Der Magistrat hat den Gelehrten nicht anders zu beschützen als einen Werkmann, einen Arbeiter, einen Arzt oder einen Bürger, wenn diesem Unrecht geschieht (...). Wirst du am Ende sagen, es sei Christus, der dich gelehrt habe, Menschen zu verbrennen? (...) Einen Menschen töten heisst niemals eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten.»
Melanchton schaltet sich ein
Castellio zieht sich aus der öffentlichen Debatte zurück; er hat mittlerweile einen Lehrauftrag an der Basler Universität und macht sich an den Abschluss seiner Bibelübersetzungen. Noch immer steht er unter Schreibverbot. Seinen Studenten verhehlt er freilich nicht seine Haltung gegenüber Calvins Prädestinationslehre, und sein Eintreten für Humanität und Toleranz findet wachsenden Anklang. Dies bleibt den Genfer Spähern nicht verborgen, und sie versuchen, ihn in die Falle zu locken, um ihn als Ketzer brandmarken zu können. Als dies nicht gelingt, streuen sie Gerüchte über ihn aus, etwa, dass er Holz gestohlen habe. Doch auch diese Masche verfängt nicht, da Castellio allseits als frommer Gelehrter mit untadeligem Lebenswandel bekannt ist. Die Hetzjagd schafft ihm eher Freunde, und sogar Melanchton, der offenbar einen bemerkenswerten Sinneswandel durchgemacht hat, schlägt sich jetzt mit einem klugen und bewegenden Brief auf seine Seite.
Dieses als Schutzbrief gedachte Schreiben lockt nun aber Calvin aus der Reserve, und er lastet Castellio eine anonyme Schrift an, die in Genf aufgetaucht ist. Mit den ordinärsten Beschimpfungen deckt er den Basler Professor ein, so dass der Senat der Universität und der Rat der Stadt Basel sich veranlasst sehen, das Schreibverbot aufzuheben und Castellio ausdrücklich zu erlauben, eine Entgegnung zu schreiben. Diese fällt äusserst sachlich aus. «Um wieviel erwünschter wäre es mir gewesen, mich mit Dir in aller Brüderlichkeit und im Geiste Christi auseinanderzusetzen und nicht nach bäurischer Art mit Beschimpfungen, die dem Ansehen der Kirche nur abträglich sein können.»
Angeklagt der Ketzerei
Ein weiterer Hieb aus Genf erfolgt auf theologischer Ebene: De Beze hat sich Castellios Bibelübersetzungen vorgenommen und bezeichnet den Verfasser als einen Mann, «den Satan ausgewählt hat». Es ist der hasserfüllte Versuch, Castellio als Ketzer hinzustellen. Mit Erlaubnis der Universität entgegnet der Verfolgte ein weiteres Mal: «Ihr hetzt und ermuntert den Magistrat zu meinem Tode.» Statt mit gleicher Münze gibt er mit versöhnlichen Worten zurück. Selbst dieser traurige Brief ist noch ein Appell an die Toleranz und die christliche Nächstenliebe. Vergeblich, das Trommelfeuer aus Genf geht weiter. De Beze erscheint persönlich in Basel und erreicht, dass ein Strohmann gegen Castellio Anzeige wegen Ketzerei erstattet.
Nun ist das Basler Gericht per Gesetz verpflichtet, eine Untersuchung einzuleiten. Castellio ist sich seiner Sache sicher und fordert Calvin und de Beze auf, persönlich als Ankläger nach Basel zu kommen, was diese selbstverständlich ignorieren. Schon ist die Sache halbwegs vom Tisch, als bekannt wird, dass Castellio zu berüchtigten, bereits verstorbenen Ketzern freundschaftliche Beziehungen pflegte. Da verweigert ihm schliesslich auch die Basler Universität die schützende Hand. Der Prozess wird vorbereitet.
Doch ein gütiges Schicksal bewahrt den Gejagten und Geschwächten vor der Anklagebank: Castellio stirbt am 29. Dezember 1563 im Alter von 48 Jahren. Basel trauert und bereitet dem grossen Gelehrten ein feierliches Begräbnis mit einer Trauerfeier im Münster.
Zweigs Protest gegen den NS-Staat
Über Dutzende Seiten hinweg ergeht sich Stefan Zweig in dem 1936 erschienenen Buch in Schilderungen und Verurteilungen dieses Terrorregimes, wobei ihm der Romancier zweifellos etwas zu Hilfe kommt. Für historisch anspruchsvolle Leser mögen dies eher Durststrecken sein zwischen den Passagen im Buch, welche die Geschichte anhand belegter Fakten vorantreiben und an sich schon eine Abhandlung wären, die das Zeug zu einer Horrorstory hätten. Wozu muss er auch noch, da er auf Castellio zu reden kommt, physiognomische Vergleiche auf Grund wenig aussagekräftiger Bildnisse aus der Zeit anstellen! Er findet Calvin hässlich, finster und böse; Castellio jedoch hat ein «durchaus geistiges und ernstes Antlitz mit freimütigen, man möchte sagen wahrhaften Augen unter einer hohen, freien Stirn ...». Solcher Unsinn begegnet einem leider dann und wann im Laufe der Lektüre, was dem Buch als Ganzem ein wenig Abbruch tut; man muss dies wohl aus der Zeit seiner Entstehung zu verstehen versuchen.
Nachdem Stefan Zweig in dem Buch bei der ausführlichen Schilderung von Calvins Terrorregime den Romancier sprechen lässt, versucht er dann doch auch, Calvin und seinem monumentalen Lebenswerk gerecht zu werden. Das Wesen des Calvinschen Protestantismus habe eine Wandlung von einer kalt dogmatischen, lebensfeindlichen zu einer humaneren Weltreligion durchgemacht.
Bei aller Parteinahme für seinen Romanhelden trägt das Buch – abgesehen von dem Drang des Autors, alles und jedes zu beurteilen und zu bewerten – ein gutes Stück zum Verständnis der Reformationsgeschichte bei. Das Werk erschien im April 1936, genau 400 Jahre nach Ausrufung der Genfer Reformation. Dass der nach England emigrierte österreichische Jude und Pazifist Stefan Zweig es in den Jahren von Hitlers Machtergreifung geschrieben hat, gehört untrennbar zum appellativen Charakter des Buches.
Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt (bei S. Fischer als Taschenbuch oder E-Book erhältlich)
* Alle Zitate folgen der Ausgabe von 1954 im Verlag S. Fischer.