Die Festivalgeschichte ist 75 Jahre alt und 750 Meter lang. Das ist die Fussgängerdistanz vom Park des Grande Albergo, wo das Festival am 22. August 1946 begann und während eines Vierteljahrhunderts stattfand, über die Piazza Grande, seit 1971 eines der weltgrössten Open-Air-Kinos, bis zur PalaCinema, dem 2017 eröffneten Palazzo mit modernen Kinos und weiteren Veranstaltungsräumen.
Masse und Gehalt
Der Zehn-Minuten-Spaziergang führt topografisch abwärts, aber historisch aufwärts zur gesteigerten Bedeutung des Festivals. So erlebt es, wem der Fortschritt im Takt des Zeitgeistes wichtig ist. Die unbeugsamen Cinéphilen empfinden den Wechsel vom eleganten Ambiente zur Volksfest-Arena als Gewinn an Masse und als Verlust an Gehalt.
Der Toleranz hilft es, dass über der Piazza Grande die gleichen Sterne funkeln, die schon über dem Grande Albergo leuchteten und wohltuend ablenkten vom gelegentlichen Ungeschehen auf der Leinwand. Gott programmiert mit.
Aktuell und avantgardistisch
Die 750 Meter und zehn Minuten rufen die Erinnerung wach an Entdeckungen, mit denen das Festival teils am Puls der Aktualität, teils avantgardistisch sein Renommee mehrte: mit Filmen des italienischen Realismus, der Nouvelle Vague, der aufstrebenden Generation, mit Filmen aus Osteuropa und der Dritten Welt sowie mit seinen Retrospektiven.
Lobenswert auch der Ausstieg aus der frugalen Finsternis, in der die Stars des Festivals die Mitwirkenden jener Filme waren, die gerade noch ein paar eiserne Asketen in die Kinosessel drückten. Bunt bis schrill und chic bis glamourös darf es wieder sein. Dem «Fest» in «Festival» zugeneigt.
Ins Gedächtnis ruft die «Jubiläums-Promenade» die Kontroversen zwischen Liberalen und Konservativen, der kulturellen Fraktion und der kommerziellen, der lokalen Trägerschaft und den Direktorinnen und Direktoren. Standing Ovation und Pfiffe im Sitzen nach Filmen und Jury-Entscheiden. Und alles, schworen die Protagonisten, aus Liebe zur Siebten Kunst. Was insofern zutrifft, als es keine Zerwürfnisse von sprengender Wucht gab.
Zukunft aus eigener Hand
Locarno feiert seine 75 Jahre ohne Rückschau durch die rosarote Brille. Dafür stürmend und drängend mit dem Blick nach vorn. Was lähmen könnte, spornt an: das sich verändernde Publikumsverhalten, die Kinos im Gegenwind der Streaming-Dienste und generell die Umwälzungen im audiovisuellen Bereich.
Mittendrin Locarno und im Nacken die Festivals von Cannes, Venedig, Berlin und – ja, auch – von Zürich. Wer die Entwicklung genauer antizipiert und darauf zu reagieren versteht, hat seine Zukunft im Griff. Locarno nimmt mit Präsident Marco Solari, dem künstlerischen Direktor Giona A. Nazzaro und Geschäftsführer Raphaël Brunschwig die Herausforderung mit spürbarer Freude an und wählte eine Doppelstrategie, eine kluge und eine, die im Schieflauf bei verfilmten Unterrichtsbehelfen endet.
Vom Festival zum Weiterbildungskurs?
Zweifellos nachhaltig sind etwa «Locarno Kids» mit Filmen und filmgeschichtlichen Einführungen für Kinder, die Programmsektion «Pardi di Domani» mit experimentellen Arbeiten junger Filmschaffender und der dem US-amerikanischen Medienkünstler und Kritiker Kevin B. Lee anvertraute «Lehrstuhl für die Zukunft des Kinos und der audiovisuellen Kunst». Das Festival macht sich selber zum brennenden Thema.
Die Nase im Wind hat Locarno mit der Absicht, schwergewichtig Filme zu zeigen, die ökologische Probleme aufgreifen und die Öffentlichkeit für den Klimawandel sensibilisieren. Im Rahmen dieses «Green Projects» wird – neben der Fülle der üblichen Ehrungen – vom WWF der «Pardo Verde» verliehen.
Das Festival ist sich des Risikos bewusst, auf einer trendigen Welle zu surfen und in einem Gesinnungsprogramm zu ertrinken. Zur Gefahrenabwehr wird betont, stets Wert zu legen auf die künstlerische Kraft der Filme. Da droht erfahrungsgemäss die Zerreissprobe, wenn zwischen gut gemeintem Inhalt und gestalterischer Meisterschaft gewählt werden muss.
Grün kommt vor dem blauen Wunder
Die Piazza Grande mit den Tausenden in erwartungsfroher Sommerlaune ist für moralische Zeigefingerübungen ein hartes Pflaster. Wer auf den grünen Rigorismus setzt, rettet sich nicht vor blauen Wundern.
Die Befürchtung betrifft das Generalkonzept des Festivals. Die Frage lautet, ob es sich im Verbund mit Naturschutzorganisationen der Welt und deren ökologischen Perspektiven zuwendet oder sich autonom mit der Filmwelt und deren künstlerischen Perspektiven auseinandersetzt. Auch dafür besteht eine Notwendigkeit. Mit dieser Einsicht würden die Festivals ihrer ursprünglichen und exklusiven Kompetenz vertrauen. Heimspiel statt Auswärts-Abenteuer.
Ideales Umfeld
Noch bietet Locarno den grössten Kulturanlass der Schweiz und ist mit Moskau, Venedig, Cannes und Karlovy Vary eines der ältesten der Filmkunst gewidmeten Festivals. Und eines mit Reputation.
Das ist allein deshalb eine Leistung, weil die Schweiz für die internationalen Filmproduktionen nicht unter den Top-Adressen figuriert. Dazu ist der Markt zu begrenzt. Wer seine Filme nach Locarno bringt, erhält für deren resonanzstarke Lancierung keine Garantie.
Unter diesen Bedingungen braucht es für die Attraktivität Locarnos immense Anstrengungen. Jahr für Jahr. Verlässliche und generöse Partnerinnen sind die Natur und die Lebensart. Das überschaubare Locarno mit dem See und den Bergen, dem südländischen Flair, der charaktervollen Altstadt, vorzüglichen Restaurants und angenehmen Hotels belohnen die Reise. Das Umfeld stimmt. Ideal für ein Filmfestival.
Der Herzenswunsch als Dilemma
Wäre da nicht eine Crux. Der Vorteil der ohnehin scharenweise in Locarno weilenden Feriengäste, die noch so gerne einen Filmabend auf der Piazza Grande verbringen, entpuppt sich als Nachteil. Denn das touristische Verlangen geht nach einem populär unterhaltenden Programm. Es ist erstens mühsam zu beschaffen und widerspricht zweitens Locarnos Herzenswunsch nach Diversität und nach neuen Filmsprachen aus unbekannteren Ländern.
Das Patentrezept, sowohl die Touristen als auch das eigens wegen des Leinwand-Angebots angereiste Fachpublikum zu begeistern, verbirgt sich seit je in einem Drehbuch mit sieben Siegeln. Aber Locarno ringt mit der Öffnung immer gewitzter. Und beim Piazza-Publikum scheint sich die Bereitschaft fürs synchrone Sehen und Denken zu erhöhen.
Einzigartige Konstellation
Die Bedeutung Locarnos reicht über den Film hinaus. So weit, dass der Film eine sekundäre «Raison d’être» sein könnte. Er war bei der Gründung des Festivals und während einiger Jahre darnach Mittel zum Hauptzweck der touristischen Werbung. Sie spielt bis heute – wie bei vielen Festivals – eine Rolle, doch eher als nützlicher Nebeneffekt.
Im Verlaufe der Jahre entwickelte sich das Festival zu einem kulturellen und identitätsstiftenden Wahrzeichen des Tessins. Der Kanton hat seinen markanten internationalen Auftritt als kreativ, kunstsinnig, modern und weltoffen. Es sind dies Kontrapunkte zur idyllisierend verkitschten Folklore. Mehr als nur spasseshalber liesse sich sagen, der Film sei das Mittel zum Zweck, das Ansehen des Kantons zu mehren.
Das Festival erfüllt privat mit aller Energie und nicht ohne patriotischen Impetus auch eine offizielle Mission und bezieht daraus seinen Stolz. Die Konstellation ist einzigartig, sich sowohl für den Film als auch für einen Kanton kulturell zu engagieren. Service public par excellence.
Hochspekulatives Wagnis
Locarno glückt dieser Dienst nicht zuletzt, weil es einem dramaturgischen Geheimnis auf die Spur gekommen ist und es geschickt zu nutzen weiss. Noch wichtiger als ein interessantes Programm ist ein Publikum, das auf ein interessantes Programm hofft. Unerschütterlich von der Hoffnung getragen, in einem Kino oder auf der Piazza Grande einen Preisträger-Favoriten zu sehen, ein Talent zu entdecken oder sich schön aufregen zu dürfen.
Offenbar vermag Locarno den Hoffnungspuls so sehr zu beschleunigen, dass die Gewissheit entsteht, die enttäuschte Hoffnung werde sicher morgen oder übermorgen erfüllt. Sie stirbt auch am letzten Abend nicht, sondern blüht bis zum nächsten Jahr weiter. Ein Perpetuum mobile des Glaubens.
Das ist Film. Ohne kämpferische Träumer gäbe es ihn nicht. Aus Vernunft würde niemand das hochspekulative Wagnis eingehen. Warum soll ein Filmfestival kein Film sein?
Locarnos Festivalgeschichte ist 75 Jahre alt, 750 Meter lang und jetzt kurz davor, neu fortgeschrieben zu werden.
Locarno Film Festival 3. bis 13. August 2022, www.locarnofestival.ch