Wenn ich beim Busbahnhof von Alibagh meine Zeitungen kaufe, habe ich Mühe, unter den auf dem Asphaltboden ausgebreiteten Spalieren ein paar englischsprachige zu finden. Die kleine Recherche für diese Kolumne bewog mich kürzlich, sie zu zählen; es waren 23 Zeitungstitel. Als ich den Verkäufer fragte, in wie vielen Sprachen, kam er auf sechs – Hindi, Mahratti, Englisch (sechs), Urdu, Gujerati und Konkani.
Wachstum
Indien ist einer der wenigen Zeitungsmärkte der Welt, der immer noch kräftig wächst. Laut einem Bericht in der Zeitung Mint stieg der Umsatz von Zeitungsunternehmen im letzten Jahr um 8.5 Prozent; neun von zehn meldeten zudem eine Zunahme ihrer Leserschaft.
Noch immer weisen die sechs grossen Metropolen die grösste Leserdichte für journalistische Printmedien auf. An der Spitze liegt mit grossem Abstand die Hauptstadt Delhi, die 2014 auf sagenhafte 3817 Publikationen kam, vor Lucknow (2568), und weit vor Bombay mit 446. Diese urbane Konzentration gilt aber nur für die Zahl der Medienprodukte und die Höhe der Werbe-Einnahmen, aber nicht (mehr) für die Leserzahlen.
Unverbrauchte Leserschicht
Wenn es um Auflagenhöhe geht, laufen die Städte mit Bevölkerungszahlen unter fünf Millionen mit ihrem riesigen Hinterland den Grossen den Rang ab. Lucknow ist typisch dafür. Es ist die Hauptstadt des 200 Millionen-Staats Uttar Pradesh und damit Einzugsgebiet eines potentiell grossen Lesermarkts. Dieser speist sich direkt aus der wachsenden Zahl von Jugendlichen und Erwachsenen, die lesen und schreiben lernen; sie stellen eine neue und unverbrauchte Leserschicht dar. Die Zeitung mit der grössten Auflage des Landes ist inzwischen nicht mehr die Times of India (TOI) mit 3 Millionen Exemplaren, sondern die in Lucknow erscheinende Hindi-Tageszeitung Dainik Bhaskar (3.5 Mio.). An dritter Stelle folgt Dainik Jhagran, deren Hauptredaktion in Jaipur sitzt (2.7 Mio.), und Malayalam Manorama aus Kerala (2.15 Mio.).
Etwas über die Hälfte der indischen Bevölkerung spricht Hindi, und 12 Prozent verstehen Englisch. Viele mehr lernen Hindi lesen und schreiben als es Englischlernende tun. Dennoch bleibt Englisch das Idiom der Eliten, ersichtlich etwa in den weit höheren Inseraten-Ansätzen der englischsprachigen Zeitungen. Trotz ihrer geringeren Verbreitung rangieren sie daher mit 37% aller Werbeeinnahmen vor der weit umfangreicheren Hindi-Presse (34%). Fünfzehn weitere Regionalsprachen und ihre Publikationen teilen sich in das restliche Drittel des Kuchens.
Enfluss des Fernsehens
Werbe-Einnahmen sind die Haupt-Einkommensquelle der Zeitungen. Der Einzelverkaufspreis einer Zeitung liegt bei weniger als fünf Rupien, knapp 8 Cents/Rappen. Der Preis der mit Werbung vollgekleisterten Times of India-Ausgaben von Delhi und Bombay deckt nicht einmal die Papierkosten. Einige der vielen tausend privaten Verträger pflegen deshalb einen Nebenerwerb: Sie holen die gelesene Zeitungen wieder bei ihren Kunden ab und verdienen mit dem Altpapierverkauf mehr als mit dem frisch gedruckten Produkt.
Indien gleicht insofern internationalen Medienmärkten, als die Printmedien auch hier vom Fernsehen gejagt werden. Es gibt inzwischen eine Unzahl von TV-Kanälen (über 900) und deckt mit 825 Millionen Konsumenten und mehreren Dutzend Sprachen praktisch das ganze Land ab. Laxe Lizenzregeln machen es dem TV-Unternehmer (im Gegensatz zu Radio und Zeitungen) relativ leicht, einen Fernsehsender zu starten.
Wegen der teuren technischen Infrastruktur wird dann bei journalistischen Investitionen gespart. Die Qualität und Lebensdauer der Programme ist entsprechend tief, und Abkupfern ist bei vielen die Regel. Rund 60% aller Fernsehgesellschaften abseits der urbanen Zentren werden zumindest indirekt von Politikern kontrolliert – mit durchsichtigen Motiven. Die Zeitungen verdienen auch deshalb mehr Werbegeld als TV-Stationen, weil ihre Reputation besser ist als die der Fernsehkanäle.
Digitale Medien
Auch in Indien werden TV und Print zunehmend von den digitalen Medien bedrängt; deren Werbe-Einnahmen wuchsen letztes Jahr um 44%. 280 Millionen Inder klicken sich inzwischen ins Internet, und der Markt von Smartphones wächst ähnlich rasch wie es die erste Welle der Mobiltelefone getan hatte. Laut Schätzungen des Arbeitgeberverbands FICCI wird die Zahl der Nutzer von heute 116 Millionen in vier Jahren auf 435 Millionen steigen.
Die Kommerzialisierung des Mediensektors zeigt nicht nur in den Redaktionen der Fernsehstudios eine negative Wirkung. Auch viele Print-Unternehmer haben ihre reine Weste mit robusterer Arbeitskleidung vertauscht. Das geflügelte Wort Paid News ist ein Beweis dafür. Es hat nichts mit Paywalls zu tun, unseren Internet-Bezahlschranken, die den Untergang des Printprodukts aufhalten sollen. Im Gegenteil, der indische Ausdruck beweist – auf eine perverse Art – dass das gedruckte Wort immer noch seinen Preis wert ist. Denn er steht für die bedenkliche Praxis von einigen Zeitungsunternehmen, Politikern auf den Nachrichtenseiten positive Wahlkampf-Stories anzubieten – gegen einen Preis, versteht sich. Der gute Ruf – Unbefangenheit, Unbestechlichkeit – ist offenbar eine Ware, die sich verkaufen lässt, allerdings mit rasch sinkendem Wert.
Vermarktung von Macht
Der Pate dieser journalistischen Missgeburt war nicht ein windiger Provinzpolitiker. Es war vielmehr das älteste und früher angesehenste Medien-Unternehmen Indiens, Bennett,Coleman&Co.Ltd. (BCCL), die Herausgeberin der Times Of India. Wie viele der grossen Zeitungskonzerne gehört BCCL einem Familienclan aus der Jain-Kaste. Dank dem Marketing-Flair der Gebrüder Jain hat die Times-Gruppe in den letzten dreissig Jahren ihre frühere Machtstellung in Bombay auf das ganze Land ausgedehnt, notabene unter Ausnutzung des redaktionellen Prestiges, das sie seit der Kolonialzeit genoss.
Früher war die Times wie ihre Londoner Namensschwester noch das vornehm-zurückhaltende Leibblatt der Elite. Heute versteht sie es wie kein anderes Zeitungsunternehmen, sich zum populistischen Anwalt der neuen urbanen Mittelschichten zu machen. Ihre Brands decken dabei alle relevanten Marktsegmente ab – die politische Nomenklatura mit der Times, die aufmüpfige Mittelklasse mit dem Mirror-Tabloid, und die Wirtschaftselite mit der Economic Times. Dazu kommt die Navbharat Times für die Hindi-sprachigen Eliten aus der Provinz.
Paid News
Die Jains finden nichts dabei, das journalistische Prestige systematisch zu vermarkten. Es kommt vor, dass die Sonntagsausgabe der ToI gleich vier Titelseiten hat – die ersten drei mit dem Impressum Sunday Times sind ganzseitige Inserate, und erst die vierte bringt die ersten Nachrichten-Schlagzeilen.
Bedenklicher sind andere Marketing-Instrumente. Paid News erscheinen in den Städte-Beilagen (Bombay Times, Delhi Times und 23 weiteren Lokal-Auflagen); sie werden nicht als solche gekennzeichnet. Zudem hat BCCL seit 2004 über 500 sogenannte Private Treaties abgeschlossen. Es sind Verträge mit Gross-Inserenten, bei denen BCCL ihnen Aktienpakete abkauft, gegen verbilligte Inserate-Kampagnen.
Kein Wunder, dass die Druckereien von Times und Economic Times inzwischen mit Notenpressen verglichen werden. Eine vor kurzem publizierte Statistik in der Zeitschrift Caravan zeigt, dass BCCL im Finanzjahr 2013/14 einen Umsatz von 57 Miliiarden Rupien (rund 900 Millionen Euro) auswies, mit einem Cash-Flow von 25%. Verglichen damit sind erfolgreiche Industrieunternehmen geradezu zweitklassig: Im gleichen Berichtsjahr lauten die Cash Flow-Zahlen für Infosys 19% und für Unilever 13%. In Indien schreiben die Zeitungen nicht nur Schlagzeilen; sie machen sie auch.