Kapitel 4
Namibia feiert an diesem 21. März seine dreissigjährige Unabhängigkeit. Damals, vor dreissig Jahren hatte die SRF-Filmerin und damalige Afrika-Korrespondentin Marianne Pletscher einen 44-minütigen Dokumentarfilm über das Land gedreht. Jetzt, dreissig Jahre später besuchte sie erneut die Hauptprotagonistin ihres Films und reiste mit ihr kreuz und quer durchs Land.
TOURISMUS, VÖLKERMORD, FEHLENDE VERSÖHNUNG
Touristen lieben Namibia wegen seiner Wüsten mit den höchsten Dünen der Welt und wegen der vielen wilden Tiere. Sie bezeichnen es als «Africa light» oder als «die Schweiz Afrikas». Es stimmt, das Land ist wunderschön und dank seiner noch von Südafrika geerbten guten Infrastruktur mit Autos leicht zu bereisen. Campingplätze, Gästefarmen oder luxuriöse Lodges bieten jeder und jedem die Unterkunft, die gerade passt.
Sogar die Zeitungen lassen sich gut lesen, in Englisch und Deutsch, und sie wären auch sehr informativ, falls sie von den Touristinnen und Touristen gelesen würden, denn die Pressefreiheit ist gewährleistet.
Auch vom WWF bekommt das Land noch heute für sein Wildpark-Management gute Noten.
Erster Genozid der deutschen Geschichte
Nur: Die wenigsten Reisenden in ihren luxuriösen Hotelzimmern bekommen von den im Land lebenden Menschen und ihren Schwierigkeiten etwas mit, und die wenigsten dort lebenden Menschen in den endlosen Blechhütten-Townships haben die Naturschönheiten schon einmal besucht. Sogar die schmale schwarze Mittelklasse bereist das touristische Namibia kaum. Nicht einmal Rosa, die immer wieder ins Ausland eingeladen wird und die immerhin neun Jahre Parlamentarierin war, hat je die zauberhaften glühendrosafarbenen Sanddünen im Sossusvlei besucht.
Ich lade sie ein, mich zu mehreren touristischen Highlights zu begleiten, weil ich selbst es auf meinen journalistischen Reisen auch nie geschafft habe, diese Naturschönheiten zu besuchen. Dass es kein gewöhnlicher touristischer Trip werden würde, war mir von Anfang an klar. Denn die «Tonspur» mit Rosas Kommentaren konnte nur eine ganz andere sein. Wir diskutieren auf dem Weg in die Wüste, angeregt von den vielen deutschen Touristen, den nie vergessenen und noch immer nicht aufgearbeiteten Völkermord, den die deutschen Kolonialisten am Stamm der Herero zwischen 1904 und 1908 begingen.
Nicht nur Menschen, auch die Kultur wurde zerstört
Die Zahlen schwanken zwischen 60’000 und 100’000 Toten. Meist wird nur erwähnt, dass die Herero nach verlorener Schlacht in die Wüste gejagt wurden oder in Konzentrationslagern ums Leben kamen. «Niemand spricht davon, dass auch Nama, San und Damara betroffen waren», sagt Rosa. «Unsere Regierungen verhandeln immer noch über eine korrekte Entschuldigung und Wiedergutmachungszahlungen. Aber an wen sollen sie gehen? Und was soll mit dem Geld geschehen? Was wird entschädigt? Ist die Regierung der richtige Partner?»
«Dass man uns unser Land wegnahm, dass unsere Kultur kaputtgemacht wurde, ist noch viel wichtiger, als dass Schädel zurückgegeben wurden und Museumskommissionen über die Rückgabe von Kulturgütern diskutieren. Und wie soll das geschehen?», fragt Rosa. «Alle unsere Stämme ausser den Ovambo im Norden sind betroffen. Vieles ist unwiederbringlich verloren. Ich vertrete die Ethnie der Damara in der Kommission, die den Anspruch auf das Land der Ahnen prüft.
Anspruch! Eigentlich gehört ja alles Land uns.»
«Heilung»
Rosa ist auch gewählte Chefin der Khomanin, einer Untergruppe der Damara, und beteiligt sich an Landverhandlungen. Sie weiss, wie schwierig es ist, wenn alte und moderne Ansprüche kollidieren. «Wir müssen eine Lösung finden, und wir müssen auch mit den Nachfahren der ersten deutschen Siedler eine Versöhnung finden.» Sie benutzt das Wort «Healing – Heilung».
Wir sprechen normalerweise eher von Versöhnung. Aber vielleicht braucht es das stärkere Wort. Eine spannende interkulturelle Diskussion folgt. Ich wage es sogar zu bemerken, dass nicht alle der frühen Siedler böse Menschen waren, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben nach Deutsch-Südwest reisten.
«Die Heimat unserer Ahnen»
Rosa ist fasziniert, als ich ihr erzähle, was ich gerade in einem wissenschaftlichen Geschichtsbuch über Namibia gelesen habe: Ein traditioneller Chief bezeichnete einen der ersten deutschen Händler als Kind, weil dieser ohne die ortskundigen Eingeborenen verloren gewesen wäre. Und sie staunt, als ich ihr erzähle, dass auch Schweizer bei der Kolonisierung des Landes mitmachten, als Händler, Forscher und Eisenbahnbauer.
Nach langem Nachdenken meint sie: «Ja, ich glaube, so weit müssen wir zurück, um Heilung zu finden. Und vielleicht geht es ja nicht nur die Deutschen und die Südafrikaner etwas an.» Vorerst findet sie aber für sich selbst eine «kleine Heilung», wie sie es nennt, als wir bei Abendlicht gebannt vor den Dünen von Sossusvlei stehen, und sie hat fast ein Erweckungserlebnis, als wir am nächsten Morgen früh auf eine der Dünen klettern. «Das darf doch nicht nur den Touristen gehören! Das ist doch die Heimat unserer Ahnen!» sagt Rosa-Visolela.
Ausser den schwarzen Guides, die später mit den Besuchergruppen ankommen, bleibt Rosa die einzige nicht-weisse Person in der ganzen Dünenlandschaft. Stundenlang bleibt sie oben, auch als die Sonne schon gnadenlos auf uns brennt. Wie wenn sie den Anblick für ihr ganzes Volk mit aufsaugen wollte.
Meditieren auf der Düne
Ich kenne keine andere Person, die auf einer Sanddüne bei fast vierzig Grad über Heilung meditiert hat. Als ich am nächsten Morgen vorschlage, einen Canyon zu besuchen, lehnt sie zuerst vehement ab. Doch als wir dann in den kleinen wunderschönen Sesriem Canyon mit seinen Kathedralen aus Felsen, seinen Licht- und Schattenspielen steigen, ist sie wie verzaubert, fängt an zu singen und zu tanzen und erklärt mir später, das sei ein alter Stammestanz. Dann bleibt sie, um erneut zu meditieren.
Später stellt sich heraus, dass Rosa gar nicht wusste was ein Canyon ist. Sie kannte das Wort nur von der Werbung eines Fast-Food-Restaurants namens «Spur Canyon». So lernt Rosa, dreifache Uni-Absolventin, was ein Canyon ist. «Das Wort klingt falsch, in meiner Sprache heisst das <//hoab> oder <//hoas>.
Die Klicklaute am Anfang des Wortes sind wichtig, so tönt Damara, jetzt bin ich im Herzen des <//oas>, jetzt bin ich zuhause. Unsere Ahnen haben hier sicher Rituale gefeiert.»
Wir fahren weiter Richtung Etosha-Park, der anderen grossen Touristenattraktion Namibias. Der Park ist eines wildreichsten Naturschutzgebiete Afrikas. Und weil Rosa nicht einfach Ferien machen kann, hat sie sich unterwegs noch den Besuch einer weiteren Frauengruppe vorgenommen. Organisiert von einer lokalen Vertreterin von «Women’s Solidarity» trifft sie junge Mädchen, mit denen sie über Teenager-Schwangerschaften reden will.
Eine neue Generation
Es stellt sich dann aber heraus, dass die jungen Frauen in diesem halbstädtischen Gebiet andere Prioritäten haben als diejenigen, die wir in den Dörfern im Süden besucht haben. Sie leben in Backsteinhäusern und nicht in Wellblechhütten und wollen vor allem wissen, wie sie zu guten Jobs in Windhoek kommen und wo sie Stipendien erhalten können. Weniger die Armutsfalle als die drohende Arbeitslosigkeit ist hier das Problem.
Es sind junge, selbstbewusste Frauen, eine neue Generation. An ihren von Brasilien inspirierten Frisuren und Nägeln sieht man, dass sie mit der Welt in Kontakt stehen.
Rosa verspricht, mit konkreten Antworten wiederzukommen, und spricht mit ihnen darüber, dass in Zukunft die Welt den Frauen genauso gehören werde wie den Männern. «Leadership» (Führungsqualität) ist eines der Wörter, die sie häufig braucht. Sie plant sogar, Seminare darüber zu machen.
Warten auf Rosa
Unterwegs kommt es zum Konflikt zwischen uns. Ich bin langsam genervt, weil ich immer wieder stundenlang auf sie warten muss. Rosa hat nach meinem westlichen Empfinden weder Zeitgefühl noch ein Gefühl für Distanzen. Ihre Reaktion ist überraschend, sie fängt an zu weinen und ist dann erst mal ganz lange ruhig. «Ich musste viel nachdenken. Du bist ja nicht die Einzige, die mir das vorwirft, meine Töchter und meine Kinder im Heim sagen dasselbe. Aber weil du weiss bist, habe ich jetzt besser verstanden, was mein Problem ist: Ich werde immer rebellisch, wenn ich mich an Grenzen halten muss, die mir andere setzen.»
«Da lauern im Hinterkopf wieder die südafrikanischen Soldaten, da muss ich an meine Folterer denken, die mich stundenlang auf einem kleinen Betonblock stehen liessen, ans Gefängnis, in dem ich mich immer nach andern richten musste. Wahrscheinlich eigne ich mich gar nicht, um mit andern zusammen zu sein.» Ich lasse das einfach stehen, versuche geduldiger zu sein. Und Rosa hat offenbar auch ihre Schlüsse gezogen. Zu meinem Abschied drei Tage später kommt sie eine halbe Stunde zu früh!
Tun, was getan werden kann
Noch sind wir aber unterwegs in den Park. An der Tankstelle kommt eine junge Frau auf Rosa zu, umarmt sie, weint. Sie kennt sie von ihren Frauenstunden am Radio und von Fernsehauftritten. Die Frau erzählt von ihrer Vergewaltigung, und Rosa tröstet, verspricht wiederzukommen. Sie hat sich auch mit Traumatherapie befasst und weiss, wie sie helfen könnte.
Die junge Frau beherrscht auch mehrere Zeichensprachen und Rosa, die in einem Gebärdensprachenprojekt für den Stamm der San involviert ist, sieht die Möglichkeit einer Arbeitsstelle für sie. Das ist typisch für Rosa, sie unterscheidet nie zwischen institutioneller und individueller Hilfe – sie tut, was gerade getan werden muss. Sie kennt alle Gesetze und alle Möglichkeiten in diesem Land, etwas zu bewegen, und sie ist optimal vernetzt.
Uralte Mythen
Jetzt aber erst einmal zu den Tieren. Diese bringen sie wieder zurück zu den Ahnen. Sie sieht Giraffen und lockt sie mit einem alten Lied an, und eine Giraffe kommt tatsächlich auf uns zu. Sie sieht Springböcke und erzählt mir, wie sie mit den Kindern schon einmal hier war und sie alle Tiere besungen haben, bis sie abends kaum mehr reden konnten. Wenn sie singt, scheint es, wie wenn sie wirklich mit uralten Mythen in Verbindung stünde.
Ihre Beziehung zu uralten Weisheiten ist auch in Europa und Lateinamerika anerkannt. Sie nahm schon an mehreren Anlässen teil, an denen sie mit Schamanen und Schamaninnen aus aller Welt in Kontakt kam. Wenn wir in der Etosha-Pfanne reisen, ist das für sie nicht einfach Tourismus wie für mich, sondern sie fühlt sich hier der Kreation und der Erde besonders verbunden.
Abends in der Lodge wird es dann wieder weltlicher: Der Ranger kommt auf Rosa zu. Er kennt sie vom Fernsehen und muss unbedingt mit ihr reden. Sein Sohn ist homosexuell und er weiss nicht, wie er damit umgehen soll. Rosa, die ja intensiv mit LGBT-Gruppen arbeitet, verspricht, in Kontakt zu bleiben. Anschliessend nimmt der Mann uns mit auf eine Nachtfahrt und wir sehen zwei Löwenweibchen mit sieben Jungen.
«Die Missionare haben das Matriarchat abgechafft»
Rosa nimmt das zum Anlass, mir zu erzählen, dass nicht nur die Löwenfamilien matriarchal organisiert seien: «Viele der Stämme Namibias wurden früher abwechselnd von Königinnen oder Königen regiert und die Frauen hatten eine starke Stellung. Erst die Missionare haben das unterbunden. Sie sind an vielem schuld, auch an der Unterdrückung der Frauen.»
Rosa fährt fort: «Ich habe ja lange für die katholische Kirche gearbeitet, sie war wichtig für uns während des Befreiungskampfes. Aber sie entliessen mich, als ich mit dem Vater meiner Töchter zusammenzog, ohne ihn zu heiraten. Heute will ich nichts mehr mit Kirchen zu tun haben. Aber doch, vielleicht gilt es auch hier, Versöhnungsarbeit zu leisten. Das wird noch Jahre dauern, und alle müssen das auch wollen.»
«Good Morning Namibia»
Rosas Themen – der Feminismus, die Menschenrechte, die Einbeziehung der Ahnen, die Versöhnung über die Generationen hinweg – werden plötzlich eins. Vielleicht sollte sie bei den nächsten Wahlen wirklich als Präsidentin kandidieren. «Guten Morgen Namibia», heisst eine Fernsehsendung, in der sie öfters auftritt. So ein bisschen arbeitet sie ja schon an ihrer Wahlkampagne, auch wenn es noch dreieinhalb Jahre dauert, bis wieder gewählt wird.
Und dies sogar international: Bald wird sie wieder in Europa sein. Im April ist sie nach Spanien eingeladen zu einem «Internationalen Treffen der Träger der Weisheit der Alten», im Juli und Juli haben haben sie «die Hüter der Erde» als Teilnehmerin an internationalen spirituellen Treffen in der Bretagne und der Normandie eingeladen. Die Themen: Frieden, Versöhnung, Heilung. Rosa wird dort über Menschenrechte referieren.
Ob das Land für eine so kompromisslose Person wie sie, die jedes Machtspiel ablehnt, bereit ist, für eine Frau wie sie als Präsidentin, wird sich zeigen. Vieles müsste überwunden werden: Korruption, Bürokratie, Machismo, Stammesdenken. Die meisten ihrer Freundinnen und Freunde, mit denen ich über die Idee rede, trauen ihr das Amt zu. Die politischen Chancen sind klein, aber es wäre sicher ein Schritt zu dem Namibia, wie wir es alle vor dreissig Jahren erhofft haben: ein progressives demokratisches Land in Afrika, in dem die Gleichberechtigung mehr als nur ein Wort ist.
Ein Land, in dem alle Kinder von einer guten Gesundheitsversorgung und Schulbildung profitieren könnten und genug zu essen hätten. Und in dem für einmal eine Frau das Sagen hätte. Zudem jemand, die das Denken der Ahnen, Spiritualität und die alten Bräuche mit den modernen ökologischen Bedürfnissen zusammenführen könnte. Noch gibt es Hoffnung für Namibia. Rosa-Visolela könnte Teil davon sein.
Kapitel 1: (bereits publiziert) 30 Jahre nach der Unabhängigkeit. Der lange Weg zur Gleichberechtigung
Kapitel 2: (bereits publiziert) «Sister Namibia» - Gegen Wahlbetrug und Korruption
Kapitel 3: (bereits publiziert) «Willst du eigentlich die ganze Last Namibias auf deinen Schultern tragen?»
Kapitel 4: «Good Morning Namibia» - tun, was getan werden muss
(alle Fotos © Marianne Pletscher, Bildbearbeitung Marc Bachmann)
Literaturhinweise:
- Marion Wallace: Geschichte Namibias. Basler Afrika Bibliographien. ISBN 978-3-905758-41-2
- Erika von Wietersheim: Guten Morgen Namibia. Palamato Publishing Hamburg. ISBN 978-3-946205-30-2
- Christine von Garnier: Ich habe einen der letzten Kolonialherrn Afrikas geheiratet. Rowohlt. 12380-ISBN 3-459915991 0
- Ulla Dentlinger: Where are you from?. Basler Afrika Bibliographien ISBN 978-3-905758-79-5
- Thiwa Trudie Amulungu: Taming my Elefant. UNAM Press Namibia. ISBN 978-99916-42-18-5