Ist diese Idee zu einfach? Schliesslich gibt es seit Urzeiten Spendenaufrufe ohne Zahl. Wenn sich aber ein Ethiker wie der Australier Peter Singer, der in Oxford, New York und Princeton lehrt, auf dieses Thema stürzt, bekommt die Wohltätigkeit eine spezielle Färbung. Denn sie ist die Nagelprobe auf den von ihm propagierten Utilitarismus.
Furcht vor dem Dammbruch
Der besteht darin, die Ethik allein unter den Gesichtspunkt des Nutzens zu stellen. Speziell für die Deutschen ist das der pure Horror. Denn der christlich geprägte Idealismus hat weite Zonen des Lebens mit dem Tabu der Unberührbarkeit umgeben. So ist die „Würde des Menschen unantastbar“. Auf dieser Basis stehen auch die Menschenrechte. Dabei ist es unerheblich, dass gegen diese Grundsätze im Alltag massiv verstossen wird, denn die Empirie ist nicht geeignet, das Ideal zu widerlegen.
Vertreter dieser idealistisch-mitteleuropäischen Ethik verweisen immer wieder darauf, dass eine Aufweichung ihrer Grundsätze die Gesellschaft auf eine schiefe Ebene führen könnte. Die Debatte um die Sterbehilfe zeigt die grosse Furcht vor einem „Dammbruch“. Wenn das Tötungstabu an einer Stelle aufgehoben wird, so die Befürchtung, wird aus der Ausnahme eine zunehmend selbstverständliche Praxis.
Eine einfache Frage
Als Utilitarist denkt Peter Singer völlig anders. Für ihn gibt es keine Tabus, sondern allein Nutzenabwägungen. Wenn ein Mensch nur noch Schmerzen erleidet und keine Aussicht auf Linderung oder Besserung besteht, dann soll er freiwillig aus dem Leben scheiden können. Diese Meinung vertritt Peter Singer schon seit Jahrzehnten, und weil er in Bezug auf die Leidensfähigkeit keinen prinzipiellen Unterschied zwischen höher entwickelten Tieren und Menschen sieht, wird er regelmässig angefeindet, ausgebuht, bedroht und – wie 2015 bei der phil.cologne 3 – als Redner erst ein-, dann aber wieder ausgeladen, weil die Veranstalter Randale im Publikum befürchten.
Mit seinem neuen Buch über „effektiven Altruismus“ zeigt Singer aber am Beispiel des Spendens, dass der Utilitarismus für das praktische Handeln ausgesprochen fruchtbar ist. Denn die Grundlage bietet eine simple Frage: Was kann ich dazu beitragen, dass Leiden gemindert und somit das Lebensglück möglichst vieler gesteigert wird? Man blockiert sich also nicht selbst durch schwierige Erwägungen wie etwa die Frage nach der Gerechtigkeit: Ist es gerecht, diesem und jenem zu helfen, anderen aber nicht? Probleme dieser Art können jede Handlungsmotivation unterminieren. Bei Singer ist es umgekehrt: Du kannst helfen. Warum tust Du es dann nicht?
Verblüffende Ergebnisse
Da in der utilitaristischen Logik des grössten Glücks der grössten Zahl die Forderung nach einem Maximum der Effizienz angelegt ist, nimmt Singer die Hilfsorganisationen in zweifacher Hinsicht unter die Lupe: Welche Hilfe entfaltet die grösste Wirkung? Und wie gut sind die Hilfsorganisationen aufgestellt, so dass das gespendete Geld einen maximalen Wirkungsgrad hat und nicht in der Organisation selbst verbrennt? Diese Untersuchungen werden inzwischen geradezu professionell betrieben, so dass man sich auf der Website von givewell.org und Effective Altruism Forum gut orientieren kann.
Die Effizienzüberlegungen führen bisweilen zu verblüffenden Ergebnissen. So macht Singer klar, dass die Malaria pro Jahr mehr als eine Million Opfer fordert, aber die Gegenmassnahmen extrem preiswert sind. Moskitonetze helfen viel, kosten aber wenig. Das Gleiche gilt für Impfungen. Die Frage, an welcher Stelle geholfen werden soll, wird ganz einfach beantwortet: Da, wo der grösstmögliche Effekt erzielt wird. Das lässt sich mit Statistiken erfassen.
Helfen macht glücklich
Die Tatsache, dass effiziente Hilfe möglich ist, kann aber nicht als eine Art ethisches Gesetz angesehen werden, das jeden zum Altruismus zwingt. Singer würde nicht wie Immanuel Kant moralische Gesetze postulieren, die unabhängig von der Motivation und der jeweiligen Stimmungslage gelten. Denn er weiss, dass die Vernunft allein ein zu schwacher Motivator ist. Daher dreht er den Spiess einfach um: Du musst zwar nicht helfen, aber die Erfahrung lehrt, dass Dir der Altruismus gut tut. Helfen macht glücklich. Weltweit habe sich eine starke Bewegung, so Singer, herausgebildet, die sich dem Altruismus widmet.
Und so schildert Singer viele Personen, die grosse Teile Ihres Einkommens spenden, also auf Konsum verzichten, und sich dadurch bereichert fühlen. Dazu kommt die befriedigende Gewissheit, dass auch kleinere Beträge, die in den reichen Ländern des Westens im täglichen Konsum einen sehr geringen Gegenwert haben, richtig eingesetzt in der Dritten Welt eine enorme Wirkung entfalten. Aber nicht jeder wird diesen Schritt wagen, und so kommt es, dass Singers Ethik auch etwas Bedrängendes hat. Denn er zeigt Wege und Möglichkeiten auf, auf die man nicht bloss mit einem Achselzucken reagieren kann. Und es hilft auch nicht, Singers Überlegungen als eine Art negativer Utopie abzutun, die am Ende zum Zusammenbruch unserer Wirtschaft aufgrund zu geringer Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen führen würde. Denn die Gefahr, dass es so weit kommt, dürfte sehr gering sein.
Die Schizophrenie der Gesellschaft
Singer weiss nur zu gut, dass Argumente lediglich begrenzte Wirkungen entfalten. Zum Teil haben sich die Menschen in geradezu schizophrenen Verhaltensweisen eingerichtet. In diesem Zusammenhang verweist er auf unseren Umgang mit Tieren. Wir halten Haustiere, es gibt zahllose Tierschutzvereine, aber kaum jemand interessiert sich für die viel grössere Anzahl von Tieren, die unter jämmerlichsten Bedingungen zur Schlachtreife gebracht werden. Singer beharrt darauf, dass zumindest höher entwickelte Tiere Schmerz empfinden und auch andere Regungen wie Angst haben. Ihnen wird in der industriellen Praxis Leid zugefügt.
Was in diesem Buch weniger eine Rolle spielt, aber seit Jahrzehnten für heftige Kontroversen sorgt, ist Singers Ansicht, dass eine scharfe Trennung zwischen Mensch und Tier zumindest bei den Primaten nicht möglich ist. Psychische Funktionen von Tieren sind mit dem Menschen vergleichbar, sonst gäbe es nicht so viele Haustiere. Aber nicht jeder Mensch verfügt immer über sein ganzes Arsenal psychischer Fähigkeiten. Entsprechend kann es sein, dass er entweder nur leidet oder gar nicht leidet. Es müsse daher möglich sein, nach gewissenhaften und rationalen Abwägungen zu entscheiden, ob ein Leben weitergeführt werden soll oder nicht.
Mit dieser Grenzüberschreitung hat sich Singer in weiten Kreisen verhasst gemacht, aber bei nüchterner Betrachtung kann sich erweisen, dass er nur den Finger in eine schwärende Wunde gelegt hat. Denn mit ihrer Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik ist die Medizin schon längst bei utilitaristischen Bewertungen angekommen. Und bei älteren Menschen werden gewisse medizinische Leistungen begrenzt, um die damit frei werdenden Ressourcen jüngeren Patienten zur Verfügung zu stellen. Man ist daher gut beraten, die utilitaristische Denkweise nicht einfach zu verteufeln, sondern ihre Herausforderungen ernst zu nehmen und damit für mehr Ehrlichkeit zu sorgen.
Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben. Aus dem Englischen von Jan-Erik Strasser, 237 Seiten, Suhrkamp Verlag Berlin 2016