In einem historischen Urteil hat Indiens Oberstes Gericht die religionspolitische Eiterbeule des Landes wegseziert. Am Samstag gestand es den Anhängern des Hindu-Gottes Ram das Recht zu, auf einem hektargrossen Landstück in der Stadt Ayodhya einen Tempel zu bauen. Die Muslime, die bisherigen Landbesitzer, sollen mit einem anderen „prominenten“ Landstück versorgt werden.
Dem Urteil gingen nie gesehene Sicherheitsmassnahmen im ganzen Land voraus. Menschenansammlungen, Lautsprechereinsätze, in brenzligen Regionen sogar der freie Zugang zu sozialen Medien, wurden verboten, Politiker und Medien wurden angewiesen, sich jedes Triumphalismus oder lauter Kritik zu enthalten. Überall patrouillierten Polizei und paramilitärische Einheiten.
Aggressives Klima
Am Ende blieb alles ruhig. Die Hindus konnten den Sieg in Ruhe geniessen, die Muslime verhielten sich ebenfalls ruhig. Es war allerdings eine andere Qualität der Ruhe, eingeschüchtert wie die Religionsgemeinschaft ohnehin schon ist, nach fünf Jahren Minderheiten-Bashing und dem Zangengriff um Kaschmir. Was geschehen wäre, wenn die Hindus „verloren“ hätten, kann man sich angesichts des aggressiven Klimas ausmalen.
Die umstrittene Parzelle gehört einem muslimischen Religionsrat, der religiösen Bodenbesitz – Moscheen, Friedhöfe, Mausoleen – verwaltet. Die genannte Parzelle allerdings war mit schwer religiöser Symbolik belastet: Die Hindus glauben, dass dies der Geburtsort von Gott Ram ist, genau am Platz, wo eine 500-jährige Moschee steht.
Offene Feindschaft
Die historische Gegnerschaft von Muslimen – gleichgesetzt mit den mittelalterlichen Eroberern – und einer unterjochten Hindu-Bevölkerung hat sich in diesem Landstück mitten in der nordindischen Gangesebene zu offener Feindschaft kristallisiert. Gemäss Volksglauben wurde der Ram-Geburtstempel von einem General des ersten Mogulherrschers Babur zerstört; auf dessen Ruinen baute er 1528 die bis heute so genannte Babur-Moschee.
Der Konflikt loderte immer wieder auf und wurde von der Kolonialregierung und später dem indischen Staat unter Kontrolle gehalten. Dann lancierte 1988 der damalige BJP-Präsident L. K. Advani einen landesweiten Pilgerzug nach Ayodhya. Er sollte die Hindu-Mehrheit unter die Fahne eines neuen Ram-Tempelprojekts – und damit hinter die Partei – scharen.
Backziegel, als Symbol des neuen Tempels
Die BJP hatte in den Wahlen von 1984 nur drei Parlamentssitze gewonnen. Der Kongress unter Rajiv Gandhi herrschte mit einer absoluten Mehrheit. Advanis Kalkül: falls es gelingt, die fragmentierte Kastengesellschaft unter einer populären Hindu-Gottheit zu vereinen, ist der BJP langfristig eine Parlamentsmehrheit nicht zu nehmen. Einer der Organisatoren der Ram Yatra war ein junges RSS-Kadermitglied namens Narendra Modi.
Die Pilger erreichten Ayodhya nicht, doch vier Jahre später, im Dezember 1992, trugen rund 150’000 Hindus aus ganz Indien Backziegel in die Stadt, als Symbol für den Bau eines neuen Tempels.
Brandschatzungen, Bombenanschläge
Doch stand da immer noch die Moschee im Weg. Am 6. Dezeber stürmten mehrere hundert heimlich trainierte Männer, bewaffnet mit Pickeln und Schaufeln, die Moschee und zerstörten deren drei Kuppeln. Im Innern der Bauruine wurde eine Ram-Statue eingeweiht, bevor der Staat einschritt und die ganze Anlage abriegelte und verstaatlichte.
In der Folge brachen im ganzen Land Unruhen aus, mit über 2000 Toten, Hindus wie Muslime, oft ausgelöst durch rückkehrende Pilger, trunken von ihrem Triumph. Die Stadt Mumbai war besonders stark betroffen. Nach schweren Brandschatzungen in muslimischen Slums im Dezember und im Januar 1993 kam es im März zu einer Reihe gleichzeitiger Bombenanschläge, die zahlreiche Tote forderten. Sie gingen auf das Konto eines muslimischen Schmuggelsyndikats mit Verbindungen zu Pakistan.
Pogrom
Zehn Jahre später, im Februar 2002, kehrten Pilger aus Gujerat von einer Shilanyas (Bauziegel)-Zeremonie in Ayodhya nach Hause zurück. Als ihr Zug einen muslimischen Slum ausserhalb der Stadt Godhra passierte, wurde ein vollbesetzter Waggon in Brand gesteckt. 59 Menschen kamen um. Es war der Beginn eines eigentlichen Pogroms gegen die Minderheit, unter den Augen des Provinz-Regierungschefs Narendra Modi. Es war auch der Beginn seines Aufstiegs als neues Idol von Hindu-Rache und -Stolz.
Die Urteilsfindung des Gerichtsauschusses war keine einfache, und er hatte es sich nicht leicht gemacht. Nicht nur musste er mehrere Gerichtsurteile mit unterschiedlichen Urteilen prüfen. Er hatte auch eine Kommission von zivilen Experten eingesetzt und in den letzten beiden Monaten tägliche Anhörungen durchgeführt.
Gesteuertes Informationsleck
Dennoch war der Gerichtsausgang schon früh absehbar. Zum Einen wollte Gerichtspräsident Gogoi, der Vorsitzende des Ausschusses, unbedingt ein Urteil verkünden, bevor er in einigen Tagen in Pension geht. Ihm wird eine Urteilspraxis vorgeworfen, die nicht immer politisch unbelastet war.
Der Friedensvorschlag des Expertenkomitees – Bau einer Moschee und eines Tempels in unmittelbarer Nachbarschaft – wurde inoffiziell bekannt. Medienstimmen spekulierten, das Informationsleck sei bewusst passiert, um die Reaktion von beiden Seiten zu testen. Die der Hindus war vehement negativ; bei den Muslimen war sie positiv, wenn auch nicht durchgehend.
Ein Gott als Rechtsperson
Am Ende waren Skeptiker nur noch daran interessiert, wie das Gericht sein Urteil begründen würde. Denn es war unbestritten, dass die Muslime rein rechtlich die besseren Karten hatten. Für die Hindus dagegen war der unerschütterliche Glaube einer grossen Mehrheit und über einen langen Zeitraum hinweg stärker als staatliches Recht.
Es war den Hindu-Anwälten sogar gelungen, beim Gericht Gott Ram selber als Rechtsperson und damit als Klägerin durchzusetzen. Damit stand göttliches Recht gegen menschliches Recht. Das Gericht musste damit rechnen, dass es bei einer Rückweisung dieser Ausgangslage zu schweren Unruhen kommen würde. Es war auch abzusehen, dass die politischen Mehrheitsverhältnisse dafür sorgen würden, den Gerichtsbeschluss nicht durchzusetzen. Dies hätte die Autorität des Gerichts schwer gechädigt, mit unabsehbaren Folgen.
„Goldenes Kapitel in der Justizgeschichte“
Um sich aus der Schlinge zu ziehen, gab es einer umstrittenen Untersuchung des staatlichen Archaeological Survey eine neue Glaubwürdigkeit. Dieser hatte nicht nur behauptet, dass unter der Moschee Relikte eines Baus zum Vorschein kamen – dies war unbestritten – , sondern dass es sich dabei eindeutig um einen Ram-Geburtstempel handle.
Premierminister Modi wandte sich am Samstagabend in einer Fernseherklärung ans Volk. Er würdigte das Urteil als „goldenes Kapitel in der indischen Justizgeschichte“, nicht weil die Hindus gewonnen hätten, sondern weil es weder Gewinner noch Verlierer gebe.
Rashtra Bhakti
Die ganze Welt habe eine Manifestation von Indiens Ethos und dem ihm innewohnenden Geist der Brüderschaft gesehen. In einem Tweet schrieb er: „Sei es Ram Bhakti (Liebe zu Ram) oder Rahim Bhakti“, wichtig sei es, „die Liebe zum Vaterland“ (Rashtra Bhakti) zu stärken.
Modi feierte das Zusammentreffen mit dem dreissigsten Jahrestag des Mauerfalls als gutes Omen. Ebenso verheissungsvoll sei die kurzzeitige Öffnung der indisch-pakistanischen Grenze am gleichen Tag. Ein kurzer Landkorridor erlaubt es indischen Sikhs, zu Fuss zum Mausoleum ihres Religionsgründers auf der pakistanischen Seite des Panjab zu pilgern.
Am Anfang stand ein Gewaltakt
Die Erleichterung in Indien über das Urteil und die gemessene Reaktion darauf sind gross, auch bei vielen Muslimen. Dennoch lässt sich nicht verbergen, dass es wohl kaum zustande gekommen wäre, hätte es nicht mit einem kriminellen Akt – der Zerstörung einer Religionsstätte – begonnen.
Es wird sich zeigen, ob sich die radikalen Hindus damit zufrieden geben, gerade nach einem Sieg, den sie mit einem Gewaltakt eingeleitet hatten. Sie sprechen von den Grossen Moscheen in Varanasi und Mathura als Standorten alter Tempel, die „befreit“ werden müssen. Andere sprechen von über eintausend solchen Stätten.
Kürzlich schlugen muslimische Persönlichkeiten einen Tauschhandel vor: Die Muslime überlassen den Hindus die Babur-Moschee, wenn diese versprechen, auf weitere Forderungen zu verzichten. Die Antwort kam rasch. Es war ein schneidendes Nein.