R., eine Freundin in Alibagh, wurde vor drei Jahren von ihrem Mann aus dem Haus geworfen. Sie verklagte ihn wegen häuslicher Gewalt und bekam Recht. Den Ehemann focht dies nicht an. Er musste R. wieder ins Haus lassen, doch vertrieb er sie darauf mit Schikanen: CCTV-Kameras, Verbot der Nutzung von Kühlschrank und Gasherd; die Angestellten liess er vor ihrer Tür schlafen.
Zudem ging er in Berufung, und seit zwei Jahren ist der Fall im Sessions Court hängig. Auch R’s Antrag auf Scheidung vor einem Gericht in Bombay wird dank Nicht-Erscheinen des Ehemanns (oder dessen Rechtsbeistand) immer wieder vertagt. Der Aufforderung des Richters für Alimentenzahlung ist er trotz mehrfacher Mahnung nicht nachgekommen. Auch hier wird er wohl schuldig gesprochen, wird Berufung einlegen, mit Hinweis auf seine um 95 Prozent verminderte Handlungsfähigkeit. Ein williger Arzt hat ihm diese attestiert. Begegnet man ihm im Bazar, scheint er völlig gesund.
Unabhängig, aber überlastet
Indien ist mit Recht stolz auf sein voll ausgebildetes Justizwesen, mit seinen Lokal-, Distrikt-, Landesgerichten, und einem mächtigen Supreme Court. Das Beispiel unserer Freundin zeigt, dass man gegen jedes Urteil Einspruch erheben kann, bis zum Obersten Gericht. In Verfassungsfragen kann selbst dessen Urteil angefochten und von einem höherrangigen Richterkollegium neu beurteilt werden.
Indiens Justiz ist von der politischen Macht weitgehend abgeschottet. Richter werden von einem jeweils höherstehenden Kollegium gewählt. Zwar muss jede Wahl vom Justizministerium abgesegnet werden, aber es hat kein Vetorecht. Alle politischen Versuche, auf die Wahl der Verfassungsrichter Einfluss zu nehmen – von Indira Gandhi über Rajiv Gandhi bis Narendra Modi – wurden bisher abgewehrt.
Das Beispiel aus Alibagh ist aber ein Hinweis, dass Indiens Gerichte massiv überlastet sind. Gegen jedes zweite Urteil wird Berufung eingelegt. Während die Bevölkerung jährlich um 17 Millionen wächst, stagniert die Zahl der Richter seit Jahren. Dies hat zu einer völligen Verstopfung der Rechtsprechung geführt.
Prozessfreudige Inder?
Mein Nachbar führt seit sieben Jahren einen Rechtsstreit wegen Nichtrückzahlung eines Darlehens. Inzwischen haben die Kosten des Verfahrens die Streitsumme längst überholt. Dennoch sagt mein Nachbar: «Ich werde nicht nachgeben. Nur so kann ich bei einem Sieg wenigstens meine Anwaltskosten decken. Wenn nötig gehe ich nach Delhi.»
Amartya Sen, der indisch-amerikanische Nobelpreisträger für Ökonomie, sprach vom Argumentative Indian als einem Wesensmerkmal seiner Mitbürger. Sind die Inder streitlustiger als andere Erdenbürger? Es scheint so. Ein Indiz ist der hohe Stellenwert der Justiz beim Publikum, ein anderes ist die veritable Anwaltsindustrie rund um die Gerichte. Dank dieser Popularität scheuen Politiker vom Versuch zurück, sich die Justiz gefügig zu machen.
Pendenzenberge, endlose Verfahren
Aber die Streitlust hat auch massive Nachteile. Knapp dreissig Millionen Gerichtsfälle sind hängig, die Hälfte davon mehr als zwei Jahre alt. Selbst im Obersten Gericht ist es nicht anders. T.S. Thakur, Indiens Oberster Richter, redete kürzlich bei einem Treffen der Regierungs- und Gerichtspräsidenten dem ebenfalls anwesenden Premierminister ins Gewissen: «Der amerikanische Supreme Court urteilt in einem Jahr über 81 Fälle. Hier haben wir 17'000 Rechtsstreitigkeiten, die allein in den letzten fünf Monaten unseren Pendenzenberg erhöhten.» Der gegenwärtige Personalstand des Gremiums: 25 Richter.
Für unzählige Inder sind der regelmässige Gerichtstermin (und dessen ebenso regelmässige Verschiebung) ein fester Teil des Alltags, wie Ferien, Familienbesuch und Begräbnisse. Einmal im Monat fährt mein Nachbar mit dem Motorrad nach Bombay und kommt am nächsten Tag mit einem neuen Termin zurück. «Das Tagessoll meines Richters sind 35 Fälle am Morgen, 35 am Nachmittag. Wenn er sieht, dass ein Streit wie meiner nichts Neues enthält, verschiebt er ihn. Sechs Stunden Fahrt für drei Minuten Richterzeit und ein neues Datum!»
Benachteiligte Arme in der Strafjustiz
In Zivilfällen kann man sagen: Ausser Spesen nichts gewesen. Das ist in der Kriminaljustiz kein Trost. Dort sitzen die Verdächtigen – sie sind noch nicht einmal angeklagt – in Untersuchungshaft. Zwei Drittel der 12'000 Insassen des Tihar Jail in Delhi, Indiens grösster Strafanstalt, sind U-Häftlinge; eine Mehrheit von ihnen sitzt schon länger, als sie im Schuldfall schlimmstenfalls zu gewärtigen hätten.
«Im Schuldfall» ist eine wichtige Einschränkung. Eine am Freitag präsentierte Untersuchung der National Law University über Todesurteile (The Death Penalty Project) enthüllt, dass 75 Prozent der Todeskandidaten Arme sind und 76 Prozent von ihnen den untersten Kasten angehören oder Muslime sind. Dies bedeutet, dass sich die wenigsten von ihnen einen Anwalt leisten können. Aus genau diesem Grund werden oft Unschuldige aus diesen Schichten von der Polizei aufgegriffen und zu fabrizierten Geständnissen gezwungen.
Oder könnte es sein, dass die Kriminalitätsrate unter Armen wirklich höher ist? Das Death Penalty Project lässt auch diese Blase platzen. 95 Prozent der Todesurteile, die es in Berufungsverfahren bis zum Obersten Gericht schafften, wurden von diesem aufgehoben. Dreissig Prozent der zum Tod Verurteilten wurden sogar freigesprochen.
Korrupte Staatsgewalt
Es sind Zahlen, die zeigen, wie viele Unschuldige wegen korrupter Staatsorgane im Polizeinetz landen. Dass diese (und viele Richter) auch patriarchalisch und sexistisch daherkommen, ist schon fast eine Selbstverständlichkeit. Unsere Freundin R. weiss, dass sie schon längst zu ihrem Recht gekommen wäre, wenn die Geschlechterrollen vertauscht gewesen wären. In dubito pro reo. Nicht pro rea.
Justice delayed is justice denied, lautet ein anderes Geflügeltes Wort. Bei den vielen Todeskandidaten in der Death Row produzierten die langsam mahlenden Mühlen am Ende zwar einen Rechtsspruch, der vielen Kopf und Kragen rettete. Aber für viele kam das Recht erst nach Jahrzehnten Einzelhaft – und zu spät für jene, die im Gefängnis starben.
Unterdotierte Gerichte
Die hoffnungslose Verstopfung der Rechtsverfahren erklärt vielleicht, warum der Oberste Richter T.S. Thakur beim erwähnten Auftritt mehrmals den Tränen nahe war. Er rechnete dem Premierminister vor, dass die vakanten Richtersitze beim Obersten Gericht inzwischen 20 Prozent erreicht haben; bei den Obergerichten sind es 44, und bei den Lokalrichtern sogar 75 Prozent.
Für Thakur ist es also nicht die Streitsucht seiner Landsleute, die den Pfad der Justiz verstopft, sondern die Enge dieses Pfads. Im Durchschnitt kommen auf eine Million Bürger zehn Richter – dabei wären fünfzig ein Mindestziel. Nur schon für Ersatzwahlen brauche die Regierung eine Ewigkeit, um den Vorschlägen des Obersten Gerichts ihr Plazet zu geben, klagte Thakur. Reformvorhaben verschwänden vollends in den Aktenablagen des Justizministeriums. Der Vorschlag etwa, ein Quorum von fünfzig Richtern für jede Million Einwohner zu erreichen, stamme aus dem Jahr 1987. Inzwischen ist Indien um knapp 500 Millionen Einwohner gewachsen.
Justiz funktioniert trotz allem
Thakurs Hinweis auf seine amerikanischen Kollegen – 81 Rechtsfälle gegenüber 17'000 neuen in fünf Monaten – ist aber auch ein Beweis für die Qualität dieses Gremiums. Trotz der Überfülle und der Komplexität der Rechtsfragen ist es dem Obersten Gericht gelungen, seine Aufgabe als Wächterin der liberalen Grundausrichtung der Verfassung weiterhin zu erfüllen.
Es hat sich mit der Schaffung der Public Interest Litigation – ein Dorfbewohner kann eine solche mit einer Postkarte an das Gericht auslösen – enorme Mehrarbeit zugemutet. Das Gericht bringt sich bei neuen gesellschaftlichen Fragen – Umwelt, Korruption, Polizeiwillkür – aktiv ein. Vor allem aber verteidigt es mit Verve die Rechte von Minderheiten und jene des Individuums, auch gegen national-religiöse Aufwallungen der Regierungspartei.