25 Jahre ist es jetzt dann her, dass in Berlin die Mauer fiel und die Deutsche Demokratische Republik Geschichte wurde. Mittlerweile ist der Checkpoint-Charly Museum, in der Bernauer Strasse gibt es eine „Gedenkstätte der Berliner Mauer“, und an manchen Stellen der Stadt zeigen kleine Metallplatten im Asphalt, wo das Bauwerk verlief. Mehr ist da nicht mehr. Ist man jung genug, könnte man meinen, es sei nie anders gewesen.
Doch es war einmal anders. Es gab den Stacheldraht, es gab die zugemauerten Fenster, es gab die unterirdischen Gänge und die Kontrollen, die auch noch den harmlosesten Passanten zum potentiell schuldig erscheinen liessen. Daran erinnern zur Zeit nicht nur zahlreiche Bücher und Filme, daran erinnert auch ein Musical, das seit seinem Start vor drei Jahren Abend für Abend den grossen Zuschauerraum des Stage Theaters am Potsdamer Platz füllt. „Hinterm Horizont“ heisst es und erzählt eine west-östliche Liebesgeschichte, die sich so oder ähnlich wirklich zugetragen hat. Das Buch dazu schrieb der Berliner Schriftsteller Thomas Brussig, Musik und Songtexte stammen von Udo Lindenberg.
„East-Westside Love Story“
Im Jahr 1983 gab Lindenberg im Rahmen des FDJ-Festivals für den Frieden im Berliner Palast der Republik sein erstes und zugleich letztes Konzert in der DDR. Dabei soll er sich in ein junges Mädchen verliebt haben, das er vier Jahre später anlässlich eines Gastspiels in Moskau wiedertrifft und dem er nachträglich seinen berühmten Song „Mädchen aus Ostberlin“ widmet. Im Musical geht die gegenseitige Liebe tief, sie hat Folgen und findet Jahre nach der Wende ihr rührendes Happy-End. Ob es in der Realität genau so war, ist irrelevant. Musicals brauchen bewegende Geschichten, Geschichten, die das Publikum bei seinen eigenen Emotionen und Erinnerungen packen und Botschaften transportieren, die in anderer Form so nicht rübergebracht werden könnten.
Udo Lindenberg nennt „Hinterm Horizont“ eine „East-Westside Love Story“, und das ist sie in der Tat. Beginnend mit der ersten Begegnung des ungleichen Paares im Jahr 1983 blendet die Inszenierung zurück und nach vorn: zurück in den August 1961, als in Berlin eines Morgens Soldaten anrückten und anfingen, mitten durch die Stadt eine Mauer zu bauen, und nach vorn in den November 1989, als die Grenzübergänge sich öffneten und erste Breschen in das bis anhin unüberwindbare Mauerwerk geschlagen wurden. Das Musical zeigt diese historischen Vorgänge mittels monumentaler Videoinstallationen, die noch einmal gegenwärtig werden lassen, was für die meisten bereits Geschichte geworden ist.
Wessis und Ossis im Saal
Lebendig wird auf der Bühne des Stage Theaters aber nicht nur die grosse Politik, lebendig wird auch das ganz private Leben der kleinen Leute in diesem Land namens DDR, das, als es noch existierte, vielen, auch und gerade Bundesbürgern, exotischer erschienen war als manches der Fernziele, an denen sie mit Hilfe von TUI und Neckermann ihren Urlaub verbrachten. Nun, 25 Jahre nach der Wende, sitzen Wessis und Ossis gemeinsam im Saal, erfreuen sich am Wiederhören so bekannter Songs wie „Sonderzug nach Pankow“ oder „Daumen im Wind“ und lachen über die gleichen Gags – die einen, weil diese gut sitzen, die andern, weil sie sich an Zeiten erinnert fühlen, in denen das Lachen darüber gefährlich gewesen war.
Unmittelbar nach der Wende wäre eine Produktion wie „Hinterm Horizont“ wohl nicht möglich gewesen. Zu nah lagen die Ereignisse, zu spürbar waren die Verletzungen, die die deutsche Teilung im Leben der Menschen hinterlassen hatte, und zu tief sass auch noch der Schock, den viele DDR-Bürger nach dem Kollaps ihres Staates und dem rasanten Wiedervereinigungsprozess erlitten hatten. Die Idee, davon mal in einem Musical zu erzählen, hätten die meisten vermutlich für zynisch oder frivol und sicher für völlig unmöglich gehalten. Doch nun, aus der zeitlichen Distanz, geht es auf einmal, und es geht sogar sehr gut. Das Musical ist eine Form, die Erstaunliches leistet. Es kann leicht und unterhaltend sein, es kann aber auch tiefer gehen und, wie im vorliegenden Fall, Probleme thematisieren, die man im kommerziellen Theaterbetrieb eigentlich nicht vermuten würde. Unterhaltend bleibt es dabei allemal.
Hochpolitischer Künstler
„Hinterm Horizont“ wartet mit allem auf, was zu einem erfolgreichen Musical gehört: mit Tanz und Songs, mit Licht- und Toneffekten, mit einem spektakulären Bühnenbild und einem Ensemble, das auch schauspielerisch einiges drauf hat. Doch je mehr die Story sich entwickelt, je tiefer man in den Mief des DDR-Alltags eintaucht und je mehr einem die Brutalität der Staatsorgane auf den Leib rückt, desto nachhaltiger spürt man, dass es dieser Produktion bei allem Glamour um weit mehr als um blosse Unterhaltung geht. Udo Lindenberg ist stets ein hochpolitischer Künstler gewesen. Früh engagierte er sich für soziale und zivilgesellschaftliche Anliegen. Die Friedensbewegung stand ihm nahe. Die deutsche Teilung war sein grosses Thema. 1987 überreichte er dem Staatratsvorsitzenden Erich Honecker bei dessen Besuch in Westdeutschland eine Gitarre mit dem Aufdruck „Gitarren statt Knarren“: eine deutliche Anspielung an den Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“, den sich die ostdeutsche Friedensbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Nach der Wende wurde der Sänger für seine Verdienste um die deutsche Einheit mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Dass das erste gesamtdeutsche Musical „Hinterm Horizont“ nun ausgerechnet dort, am Potsdamer Platz, über die Bühne gehen kann, wo die Mauer verlief und 40 Jahre Niemandsland war, muss für Udo Lindenberg eine grosse Genugtuung sein. Er nutzt die Chance nicht nur, um zu unterhalten, sondern auch um zu belehren. Berlin ist zwar zusammengewachsen, und Deutschland ist eins. Aber die Mauer in den Köpfen, die gibt es noch immer. Es gibt Leute, die sich nach den alten Zeiten zurücksehnen, es gibt aber auch solche, die die Gefahr nicht sehen wollen, die noch immer und immer wieder von rechts droht. All das läuft in dem Musical unterschwellig mit. Wer will, kann es hören und Udo Lindenberg für sein Engagement dankbar sein. Wer nicht will, geniesst die Musik, die mitreissend ist wie eh und je.
„Hinterm Horizont“, Stage Theater am Potsdamer Platz, Marlene-Dietrich-Platz 1. Tickets über www.musicals.de und unter 0049 1805 44 44.