Es geschah gegen Ende unseres Gesprächs. Unsere Beine waren schon etwas steif vom Schneidersitz auf dem Boden. Und wir konnten uns kaum bewegen in diesem kleinen Raum im Basmandi-Slum mitten in Lucknow. Wir (Lynne und Peter vom englischen KIAWAH-Trust, Vishal Kapoor von der Organisation DASRA in Bombay, und ich als Vertreter der Schweizer Dalyan-Stiftung) waren umringt von zwanzig Mädchen im Alter von zwölf bis 18 Jahren.
Sie waren die Zielgruppe des Projektbesuchs. Unter dem Namen ‚Saloni‘ will es alle Mädchen von 12 bis 18 Jahren in 400 Slums der Hauptstadt des grössten indischen Bundesstaats Uttar Pradesh erreichen, dem Einzugsgebiet eines Hinterlands von mehr als fünfzigtausend verarmten Dörfern. Nach anderthalb Jahren Projektdauer war unser Treffen Teil einer ‚Midterm Review‘, die zeigen würde, ob die Intervention unserer lokalen Partnerorganisation, der NGO ‚Sarathi‘, erste Früchte trägt.
‚Life Skills‘-Training
Während anderthalb Stunden hatten wir die Mädchen ausgefragt, ob das wöchentliche Training ihnen etwas gebracht hatte. Keine der Teenager war mehr als vier Jahre zur Schule gegangen, bevor sie wieder Hausarbeit machten, Geschwister hüteten, kochten, putzten – ein Los, das sie mit vierzig Prozent ihrer Alters- und Geschlechtsgenossinnen in Indien teilen.
Das viermonatige ‚Life Skills‘-Training von Sarathi hatte offensichtlich etwas bewegt. Die Mädchen konnten fast nicht warten, bis sie an der Reihe waren, um zu erzählen, was sie gelernt hatten: Wie wichtig es war, dass die jüngeren Geschwister geimpft wurden, die Gefahr von Infektionskrankheiten, wenn sie unsaubere Monatsbinden trugen, was der Menstruationszyklus überhaupt war, was HIV/AIDS, wie man es verhüten konnte, dass es ein Gesetz gab, das Heiraten unter achtzehn Jahren verbietet, dass man nach der Heirat nicht sofort Kinder haben, und zwischen Schwangerschaften mehrere Jahre pausieren sollte.
Und plötzlich: Knips
Sie hatten auch gelernt, wie sie unter sich darüber diskutieren, wie sie vorgehen können, um die Eltern von einer voreiligen Verheiratung abzuhalten, wie Kontakt aufnehmen mit Beamten der Gesundheitsbehörde, um eine Impfkampagne durchzuführen; ihre Erfahrungen, als sie mit den erwachsenen Freiwilligen eine Gesundheitskarte aller 125 Haushalte in Basmandi entwarfen.
Wir hatten zugehört, dazwischen hatten Vishal und Lynne ein paar Fotos geschossen, die Mädchen lachten und tuschelten. Dann geschah es. Ein Mädchen hatte sich von einer Sarathi-Angestellten das Handy ausgeliehen, spielte ein bisschen damit – und plötzlich war das Objektiv auf uns gerichtet, Knips, und als die Mädchen in schallendes Gelächter ausbrachen, stimmten wir, etwas verlegen, ein.
Plötzlich stellten sie die Fragen
Erst später wurde mir bewusst, was in diesem Augenblick geschehen war, viel mehr nämlich als dieses heute fast gedankenlose Handy-Hochheben und -Abdrücken. Unsere Gruppe hatte es praktiziert, nebenbei und abwechselnd mit Fragen. Dahinter verbarg sich dieses unbewusste Gefälle, in dem wir selbstverständlich das Subjekt waren und die bedauernswerten Mädchen unser Gegenstand: Wir fragten, sie antworteten, wir fotografierten – ohne zu fragen -, sie lächelten in die Kamera.
Mit einem einzigen Klick hatte sich diese Beziehung umgedreht, nicht in ihr Gegenteil, aber in ein Gleichgewicht, in dem die Subjekt/Objekt-Position abwechselte, statt starr und einseitig zu bleiben. Wir konnten ihn förmlich spüren, diesen fremden, neugierigen Blick. Auch die Mädchen taten es, denn plötzlich stellten sie die Fragen: Warum wir eigentlich von so weit ins Slum gekommen waren; und ob es auch in London Slums gibt; wann dort junge Mädchen heiraten; und wie diese Mädchen dann mit Grosseltern umgehen, die in Basmandi bereits vom Heiraten sprechen, kaum hat ein Mädchen die erste Periode hinter sich.
Aus Aschenputtel autonome Personen machen
Auch die Vertreter von ‚Sarathi‘ waren ein bisschen stolz, denn die Mädchen hatten ein ‚Life Skill‘ gelernt, das vielleicht noch wichtiger war als die vielen Informationen, die sie im Training gespeichert hatten. Und dies bloss vier Monate? Als wir uns später austauschten, waren wir alle erstaunt, wie wenig es braucht, um diese psychosoziale Dynamik auszulösen, die aus Aschenputtel Personen macht, bereit und willens, autonom zu handeln – wenn sie eine Chance erhalten.
Das ist ein grosses Wenn. Das Projekt, so erkannten wir, hat Aspirationen geweckt, und diese sind drängend und fordernd. Aber es hat nicht vorgesehen, ihnen zu begegnen. Diese Mädchen wollen nicht nur ‚Life Skills‘, sondern auch ‚Job Skills‘. Aber wie dies bewerkstelligen bei Kids, die zwar ein Foto schiessen, aber kein SMS schreiben können; die mit Beamten verhandeln, aber keinen schriftlichen Antrag stellen können?
Kinderheiraten
Umso wichtiger ist der Anstoss, den der KIAWAH Trust und DASRA gaben, als sie 2011 eine ‚Adolescent Girls Alliance‘ bildeten, mit Partnern wie Dalyan. Sie soll in den nächsten fünf Jahren eine Million indische Mädchen aus dieser Altersgruppe erreichen. Es ist ein Alter, in der sich die Frustration über entgangene Schulbildung vielleicht noch nicht in Bitterkeit verwandelt hat; ein Alter auch, in der praktische Intelligenz, jugendliche Energie und ein hartes Körnchen Aufbegehren nur darauf warten, einen Anstoss zu bekommen, um Niederlage in Aspiration umzuwandeln. Bereits in einem, zwei Jahren müssen sie (über)lebenswichtige Entscheide beeinflussen – wann zu heiraten, wann Kinder zu haben; gesunde Kinder zu haben, und wenige.
Noch eindringlicher präsentiert sich nämlich die real existierende Alternative: 40 Prozent der weltweit sechzig Millionen Kinderheiraten werden in Indien geschlossen; 61 Prozent aller Inderinnen im Alter zwischen 25 und 49 waren noch nicht achtzehn, als sie heirateten; die Kindersterblichkeit bei dieser liegt um 50 Prozent über jener von Frauen, die später heirateten. Kein Wunder, denn 200 Millionen Frauen haben nur rudimentäre Kenntnisse über Menstruationshygiene; und 88 Prozent haben keine sauberen Binden, sondern nehmen, was herumliegt – Sand, Asche, Blätter, Heu, Plastik, Waschlappen. Die Folgen: auch bei Kinder- und Müttersterblichkeit ist Indien einsame Spitze.
Jede Erwähnung der Anatomie verboten
Vor einigen Tagen besuchte ich in Bombay ein weiteres Projekt der DASRA-Allianz für junge Mädchen. Es war eine von zwölf Schulen in der Stadt, in der die ‚NAZ Foundation‘ die zwei wöchentlichen Sportstunden der siebzig Vierzehnjährigen übernommen hat. Sie üben Netzball mit ihnen, und was dabei alles wichtig ist: Teamdenken, Führungsarbeit, Spielwitz, Körpereinsatz.
Dazu kommen Dinge, die man nicht gleich mit Netzball assoziiert: Auf dem Sportplatz wird auch darüber diskutiert, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein, was es für Rechte hat, über seinen Körper und dessen Schutz vor Gewalt. Wie kann ich mehr Autonomie ausüben, etwa beim Sparen von Kleingeld? Und wie in Lucknow ist auch hier das Kernthema Wissensvermittlung über den geschlechtlichen Reifungsprozess. Denn selbst in der Wirtschaftsmetropole des Landes sind die Schulmädchen den ‚Drop-outs‘ aus dem Basmandi-Slum nicht voraus. Denn Indien hat ein Gesetz, das im Schulzimmer jede Erwähnung über Anatomie und Physiologie des Körpers verbietet, „zum Schutz der Mädchen“.