Die meisten Auguren waren sich schon im Vorfeld der Veranstaltung einig: Dieser Genfer Gipfel wird nicht zu einem politischen Durchbruch wie das Treffen Reagan-Gorbatschow im November 1985. Damals war von den beiden Staatsmännern im Rückblick gesehen der Anfang vom Ende des Kalten Krieges eingeläutet worden, der nach dem Zweiten Weltkrieg die internationale Politik weitgehend geprägt hatte. Gorbatschow war damals bei der Genfer Begegnung noch ziemlich neu an der Macht in Moskau und er hatte deutlich signalisiert, dass er die verkalkte Sowjetunion zu neuen Ufern führen wollte. Reagan stand 1985 bereits in seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident. Er nutzte die Gelegenheit, mit dem neuen Kremlchef ins Geschäft zu kommen, obwohl ihm das viele nicht zugetraut hatten.
Rüstungsbegrenzung und Cyber-Kriminalität
Putin dagegen ist bereits seit 21 Jahren in Moskau an der Macht und er hat die russische Verfassung inzwischen so manipuliert, dass er im Prinzip noch bis zum Jahre 2036 an der Spitze des allerdings geschrumpften russischen Reiches bleiben kann. Niemand rechnet mehr damit, dass von ihm neue demokratische Aufbrüche oder Impulse zu einem grundlegend angenäherten Verhältnis zum Westen ausgehen könnten. Als nüchterner Beobachter muss man schon zufrieden damit sein, dass die bissige Rhetorik, die in letzter Zeit das russisch-amerikanische Verhältnis zunehmend dominiert hatte, beim Genfer Putin-Biden-Treffen einer gemässigteren, nüchternen und inhaltlich konstruktiveren Sprache gewichen ist.
Aber auch der Umstand, dass Putin nicht mehr der irrlichternde, und vom Moskauer Autokraten offenbar persönlich angezogene Vorgänger Bidens gegenüberstand, ist ein Grund zur Erleichterung. Der 78-jährige Biden mag zwar in seinem Habitus weniger agil und scharfzüngig wirken als der fast zehn Jahre jüngere Putin. Aber er verfügt als langjähriger Senator und Vizepräsident kaum über weniger Erfahrung in der Aussenpolitik. Und er macht, anders als sein Vorgänger im Amt, auch nicht den Eindruck, dass er sich wegen eines kurzfristigen Show-Effekts leicht über den Tisch ziehen liesse.
Unter diesen deutlich eingeschränkten Voraussetzungen kann man dem Genfer Gipfelgespräch immerhin drei positive Ansätze gutschreiben: Erstens die Entscheidung der beiden Staatschefs, ihre Botschafter in Moskau und Washington, die wegen akuter bilateraler Verstimmung beide nach Hause gerufen worden waren, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzuschicken. Zweitens neue Vorgespräche über die Erneuerung und mögliche Erweiterung von Verträgen zur Begrenzung der atomaren Rüstung zu beginnen. Angesichts der wahnwitzigen Überladung ihrer beidseitigen Arsenale, von denen beide Seiten wissen, dass sie nie eingesetzt werden können, ohne selbst zerstört zu werden, ist das gewiss ein höchst vernünftiger Schritt. Drittens haben Biden und Putin Gespräche zum Thema Cybersicherheit vereinbart.
Auch auf diesem Feld scheinen gemeinsame Anstrengungen zur Eingrenzung von digitalen Hackerkommandos, die ganze Versorgungsnetze lahmlegen können, dringend notwendig. Wer hinter solchen digitalen Einbrüchen steht, ist zwar meist ziemlich undurchsichtig, auch wenn es auf politischer Ebene nicht an gegenseitigen Vorwürfen fehlt. Doch einiges spricht dafür, dass es in Moskau und Washington auch überschneidende Interessen gibt, diese kriminellen Graubereiche besser unter Kontrolle zu bringen.
Putins Prioritäten
Dass zum allgemeinen Thema Menschenrechte oder konkret zum Fall des gefangenen Oppositionellen Nawalny und der verschärften Repression gegen nicht systemkonforme Publikationsorgane keine Annäherungen zustande gekommen sind, selbst wenn Biden entsprechende Stichworte ansprach, hat niemanden überrascht. Putin hatte schon im Vorfeld klargestellt, dass er nicht bereit ist, über solche Fragen zu diskutieren – das seien innere Angelegenheiten. Auch der russisch-ukrainische Konflikt und insbesondere die russische Schützenhilfe für die Separatisten in der Ostukraine scheint bei dem dreieinhalbstündigen Gespräch in Genf nicht näher diskutiert worden zu sein. Ohne eine greifbare Entspannung auf diesen beiden politischen Feldern wird es zwischen dem Putin-Regime und dem westlichen Verbund kaum je eine grundlegende Annäherung geben. Putin weiss das, aber das stört ihn nicht, weil er andere Interessen hat.
Was ihn in erster Linie interessiert, ist die innere Festigung und längerfristige Absicherung seines Machtsystems. Das geht auch aus einem Kommentar der russischen Journalistin Elena Tschernenko hervor, der am Mittwoch in der «New York Times» publiziert wurde. Die Autorin ist Korrespondentin der russischen Zeitung «Kommersant», die sich politisch als unabhängig deklariert, aber deren Mitarbeiter schon vor einiger Zeit öffentlich erklärten, dass eine freie politische Berichterstattung in Putins Machtbereich nicht mehr möglich sei. Putin gehe es vor allem darum, dem einheimischen Publikum ein Bild von Biden und dem Genfer Gipfel durch den Filter des Kremlapparates vorzuführen, argumentiert Elena Tschernenko. Das sei schon deshalb garantiert, weil drei Viertel aller Russen sich über jene Fernsehkanäle informierten, die dem russischen Staat gehörten oder von ihm kontrolliert würden.
Aber selbst ohne diesen Filter, schreibt die «Kommersant»-Korrespondentin, geniesse Putin heute immer noch das Vertrauen und die Zustimmung von über 60 Prozent der Bevölkerung, auch wenn diese Zustimmung seit der Euphorie über die Krim-Annexion vor sieben Jahren etwas zurückgegangen sei. Nach ihrer Meinung hat sein Regime im Hinblick auf die im September fälligen Duma-Wahlen wenig zu befürchten.
Unerwartete Entwicklungen sind, wie man weiss, in der Politik immer möglich. Das gilt auch für Russland. Vom Genfer Putin-Biden-Treffen sind allerdings keine Signale in diese Richtung ausgegangen – anders als vom Regan-Gorbatschow-Gipfel vor 36 Jahren.