Von Giosanna Crivelli 1)
Als ich eines schönen Tages nach Hause zurückkehre, ist der benachbarte Park zu meiner Überraschung von einer beeindruckenden Serie von Bauprofilen überstellt, eines hinter dem anderen, von oben bis unten, wie Krieger, die zum Angriff bereit sind. Profile, die schnell aus dem Boden schiessen, ohne Vorwarnung. Es scheint ein böser Traum zu sein, aber es handelt sich vielmehr um die hässliche Wirklichkeit.
Nicht dass das Auftauchen von Bauprofilen an den unerwartesten Orten eine Seltenheit wäre – aber Tatsache ist, dass es sich bei diesem Park um jenen handelt, in dem Hermann Hesse gelebt hat, den „Parco della Casa Rossa“ in Montagnola bei Lugano. Ein Ort also, hinter dem ein wichtiges Kapitel Kulturgeschichte steht, ein Ort, der idealerweise ein Gut für die Allgemeinheit sein sollte, ich würde gar sagen, ein Weltkulturerbe. Ohne nostalgisch sein zu wollen: Die Welt verändert sich.
Hesse schrieb: "Auch hier geht es zu Ende mit dieser alten Welt … und mancher von uns weiss auch, mit dem Verstand oder mit dem Herzen, dass es sich hier nicht um Fortschritt und Romantik, um Vorwärts oder Rückwärts handelt, sondern um Aussen und Innen …"
Das spekulative Bauprojekt, das man in diesem Park hochziehen will, stellt das Gegenteil von allem dar, was Hermann Hesse geschrieben hat. Wir brauchen wirklich andere Werte! Nicht von ungefähr werden seine Bücher nach wie vor in viele Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt gelesen. Und die Besucher kommen von überall her zu diesem Hügel, zu seinem Park, auf ihrer mystischen Pilgerreise. Zeuge dafür ist der wachsende Erfolg des „Museums Hermann Hesse“. Hermann Hesse unterstrich die Bedeutung des zerbrechlichen Individuums auf der Suche nach einer eigenen Ausrichtung und einer eigenen Identität im Meer der Unsicherheiten, das das Leben ist. Im Kontrast zur trügerischen Sicherheit des äusseren Anscheins, der Macht und des Geldes.
Jeder Ort hat seine Bedeutung und ist Wächter über Geschichten, geschriebene und nicht geschriebene. Hesse wusste diese Ecke Erde durch die Kraft seiner Gedanken universal zu machen, ein Ort, der jetzt im Unbewussten der Allgemeinheit existiert und jene inspiriert, die daraus Anregung für ihren Weg ziehen. Ein Ort, der ein anderes Schicksal verdient als jenes, das auf ihn zu warten scheint. Das Glück zu haben, Erben eines Kulturgutes wie dieses zu sein, bringt Verantwortung mit sich – sowohl ethische als ästhetische. Das Eigentumsrecht ist heilig, gewiss, aber es gäbe auch andere, weniger invasive Lösungen als ein banales Legoland.
1) Giosanna Crivelli (62) ist freischaffende Fotografin und lebt seit ihrer Kindheit in Montagnola. Sie ist, inspiriert auch von Hermann Hesse, Autorin mehrerer Fotobücher und Ausstellungen, unter anderem über die Landschaften des Tessins..