Napolitano gilt als einer der beliebtesten und weisesten Politiker Italiens. Sein Mandat endet am 15. Mai. Immer wieder hat der in den letzten Wochen betont, er wolle – angesicht seines Alters - kein zweites Mandat annehmen. Der Staatspräsident wird für sieben Jahre gewählt.
Jetzt tut er es doch. „Ich kann mich der Verantwortung nicht entziehen“, sagte er am Samstag. Zuvor war der ehemalige Kommunist Napolitano von mehreren Parteichefs regelrecht bekniet worden, doch noch einmal anzutreten.
Die Entscheidung fiel im 6. Wahlgang am Samstagabend. Das notwendige absolute Mehr lag bei 504 Stimmen. Napolitano erhielt 739 Stimmen. Es ist das erste Mal seit Einführung der Demokratie in Italien, dass ein Staatspräsident eine zweite Amtszeit gewählt wird. Viele werden die Wahl als Übergangslösung interpretieren. Aber besser eine Übergangslösung als keine Lösung.
Man könnte die Wahl Napolitanos auch negativ interpretieren: Italiens Politklasse ist nicht mehr fähig, sich zusammenzuraufen und einen neuen Staatspräsidenten zu wählen. Sie ist auch nicht fähig, eine Regierung zu bilden. Sie ist ebenso wenig fähig, endlich fällige Reformen einzuleiten. Schon sprechen einige von einer "Metamorphose der Republik".
Napolitano hatte in den letzten Wochen intensiv versucht, die politischen Parteien zu bewegen, eine funktionsfähige Regierung zu bilden. Ohne Erfolg. Jetzt wird er die Bemühungen fortsetzen. Vielleicht mit mehr Erfolg, denn einer der Hauptakteure, der resolut die Macht für sich reklamierte, fällt jetzt weg.
Italiens Linke liegt in Trümmern
Der Wahl Napolitanos am Samstagabend waren fünf peinliche Wahlgänge vorausgegangen, die zum Rücktritt des linken Parteiführers Pierluigi Bersani geführt haben. Nicht nur das: Die Links-Allianz von Bersani liegt in Trümmern.
Doch auch ohne Bersani: Napolitanos Aufgabe wird schwierig. Die grosse Frage ist: Wer führt jetzt die Linke an? Der sozialdemokratische "Partito Democratico" (PD) ist eine basisdemokratisch organisierte Partei, die ihren Parteichef in Primärwahlen wählt. Solche zu organisieren, braucht Zeit. Was geschieht in der Zwischenzeit? Berlusconi wird jetzt sicher beanspruchen, erneut Ministerpräsident zu werden. Er wird sagen: "Seht, die Linke ist zu nichts fähig, sicher nicht zum Regieren".
Der Freitag war der „schwärzesten Tag in der Geschichte der italienischen Linken“. Dies zumindest ist die Ansicht altgedienter Mitglieder des „Partito Democratico“, dessen Generalsekretär Bersani war.
„Das ist zu viel. Ich trete zurück“. Mit diesen Worten zog Bersani am Freitagabend die Konsequenz auf dem gegen ihn gerichteten parteiinternen Putsch. „Eine Minute nach der Wahl des neuen Präsidenten werde ich als Generalsekretär zurücktreten“, sagte er. Am Samstagabend, eine Minute nach der Wahl Napolitanos, demissionierte er.
Verbittert, demontiert, verraten
Vor einem halben Jahr noch flog Bersani in den Meinungsumfragen davon. In Umfragen erhielt der 63-Jährige Werte von fast 40 Prozent. Kaum jemand zweifelte, dass er Ministerpräsident würde.
Jetzt, sechs Monate später, ist er am Ende: verbittert, demontiert, verraten, davongejagt. Sein Taktieren während der Wahl des neuen italienischen Staatspräsidenten hat ihm den Kopf gekostet.
Ein Viertel seiner eigenen Parlamentarier haben ihn verraten und seine Anweisungen nicht befolgt. „Es gibt zerstörerische Kräfte innerhalb der Partei, gegen die es kein Mittel gibt“, erklärte er am Abend dieses schwarzen Freitags.
Bersanis Demontage beginnt am 25. Februar dieses Jahres. Bei den Parlamentswahlen gewinnt seine Partei zwar knapp die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, aber nicht im Senat. Da beide Kammern gleichberechtigt sind, kann Bersani keine Regierung bilden. Seither herrscht ein politisches Patt. Um an die Macht zu gelangen, steuert er einen seltsamen Zickzack-Kurs – ohne Erfolg.
Parteibüchlein werden verbrannt
Dann der vergangene Donnerstag: der erste Durchgang der Staatspräsidentenwahl. Bersani hat mit Berlusconi einen Pakt geschlossen und den 80-jährigen früheren Senatspräsidenten Franco Marini zur Wahl vorgeschlagen.
Ein namhafter Teil der Linken begehrt auf. Kritisiert wird, dass Bersani vor Berlusconi in die Knie gegangen sei. In Rom demonstrieren Linke gegen ihren Parteichef. Parteibüchlein werden verbrannt. Es hagelt Bersani-feindliche SMS und Tweets. Selbst Bersanis Sekretärin opponiert.
Matteo Renzi, der Bürgermeister von Florenz, steht offen gegen Bersani auf und erklärt, er würde nicht für Franco Marini stimmen. Renzi geniesst im Partito Democratico einige Unterstützung. Auch die linksradikale Partei „Sinistra, Ecologia, Libertà“ (SEL) von Parteichef Nichi Vendola opponiert. Die SEL ist Teil von Bersanis Mitte-Links-Allianz.
Die Wahl endet für Bersani mit einem Desaster. Marini wird bei weitem nicht gewählt.
"Heuchler, du hast ihn umgebracht"
Dann der Freitagmorgen: Im Capranica-Theater in Rom versammeln sich die linken Spitzenvertreter, um die Lage zu beraten. Bersani steht auf und dankt dem unterlegenen Franco Marini für seine Kandidatur. Plötzlich schreit hinten im Saal jemand: „Heuchler, hör auf, du hast ihn umgebracht“. Marini selbst hatte zuvor erklärt, Bersani habe ihn aufs Schafott geführt.
Doch das Schlimmste kommt erst noch. Bersani und seine Entourage schlagen für den vierten Wahlgang Romano Prodi als Kandidaten der Linken vor. Prodi, zweimaliger Ministerpräsident und Präsident der Europäischen Kommission, galt seit langem als möglicher Kandidat. Für Bersani war er ein sicherer Wert.
Doch dann der Schiffbruch: Prodi wird nicht gewählt. Er verpasst das im 4. Wahlgang nötige absolute Mehr mit über 100 Stimmen.
Die Berlusconi-Partei "Popolo della libertà" (Pdl) hat gar nicht an der Abstimmung teilgenommen und damit – indirekt – gegen ihren Erzfeind Prodi votiert. Auch die Bürgerbewegung des bisherigen Ministerpräsidenten Mario Monti hat sich gegen Prodi gestellt – ebenso die Protestbewegung „5 stelle“ von Beppe Grillo.
"Interner Bandenkrieg"
Schlimmer für Bersani ist jedochg: 101 seiner eigenen, linken Parlamentarier haben gegen Prodi gestimmt – und damit gegen Bersani. Dies kommt einem parteiinternen Putsch gleich. Hätte alle Linke für Prodi gestimmt, wäre er zwar noch nicht gewählt worden. Aber mit einigen Überläufern anderer Parteien hätte er es geschafft.
Bersani ist verzweifelt: Auf Prodis Nicht-Wahl anspielend sagt er: „Heute Abend haben wir einen Vater unseres Vaterlandes verbrannt“. Er beklagte die „fehlende Solidarität und Verantwortung“ innerhalb der Partei. Parteimitglieder sprechen von einem „internen Bandenkrieg“.
Zuvor hatte Rosy Bindi, eine Präsidentin des PD und altgediente Spitzenvertreterin der Linken mit bösen Worten das Handtuch geworfen. Sie beklagte Bersanis Taktik und erklärte, sie sei seit Monaten nicht mehr in den Entscheidungsprozess einbezogen worden.
Jetzt ist Italiens Links-Allianz, das stärkste Parteienbündnis, das noch vor kurzem ein „governo del cambiamento” versprochen hatte, implodiert.
”Das Ende der Epoche der historischen Parteiführer”
Matteo Orfini, ein Anhänger von Matteo Renzi, erklärte: “Heue geht die Epoche der alten historischen Parteiführer zu Ende”.
Matteo Renzi, der Jüngtürke und Shootingstar, reibt sich die Hände. Im vergangenen Herbst hatte er noch die Primärwahlen gegen Bersani klar verloren. Jetzt scheint seine Zeit gekommen. Es braucht wenig Phantasie, um zu erraten, dass er den Putsch gegen Bersani befürwortet oder gar angeführt hat.
Eine Meinungsumfrage, die der Corriere della sera vor zehn Tagen publizierte, besagt, dass Renzi das Vertrauen von 56 Prozent der Italiener geniesst. In Bersani, Berlusconi und Beppe Grillo haben nur 26 Prozent Vertrauen. Renzi hofft jetzt, dass er zum neuen PD-Generalsekretär gewählt wird. Doch gewinnt die Linke mit ihm an der Spitze die nächsten Neuwahlen, die bald schon stattfinden könnten? Das ist noch längst nicht sicher.
Innerhalb der Partei gibt es starke Widerstände gegen ihn. Man wirft ihm vor, kein Linker zu sein, sondern alles zu tun, um zu gefallen. Tatsächlich ist bei ihm eine klare ideologische Ausrichtung schwer auszumachen. Wenn er ein Linker wäre, so sicher ein sehr rechtsstehender.
Berlusconi beginnt zu singen
Der „Popolo della libertà“ (Pdl), die Partei von Silvio Berlusconi, ist ausser sich vor Freude. Ohne einen Finger gerührt zu haben, ist ihr Erzfeind gescheitert. Jetzt sagt Berlusconi: „Seht, die Linke ist zu nichts fähig, sicher nicht zum Regieren“. Die Berlusconi-Leute versammelten sich am Freitagabend zu einem Nachtessen in Rom.
Berlusconi ergreift das Mikrofon. „Ich kündige euch jetzt eine Neuigkeit an, die euch den Appetit verschlägt: Bersani tritt zurück“. Im Saal bricht Jubel aus. Berlusconi beginnt zu singen.
Inzwischen ging die Wahl des Staatspräsidenten weiter. Der 5. Wahlgang am Samstagmorgen brachte nichts. Die Linke entschied, leer einzulegen, um ihre Wunden lecken zu können. Die Rechte erschien gar nicht nur Wahl.
Dann die Erlösung
Wieder begann das Paktieren und Taktieren. Niemand getraute sich neue Namen ins Spiel zu bringen, um bei einer Niederlage nicht einen Imageverlust zu erleiden.
Die Ratlosigkeit war so gross, dass am Samstagmittag Bersani, Berlusconi und der bisherige Ministerpräsident Mario Monti gemeinsam im Quirinal, dem Sitz des Staatspräsidenten eintrafen. Mit wenig Hoffnung, denn der 87-jährige Napolitano hat mehrmals klipp und klar gesagt, sieben Jahre seien genug.
Dann die Erlösung. Er will doch noch. Seine Wahl war dann eine Formsache. Natürlich herrscht nicht überall Freude. Die linksradikale SEL stimmte gegen Napolitano und für den bald 80-jährigen ehemaligen Kommunisten und Hochschulprofessor Stefano Rodotà. Auch der ehemalige Komiker Beppe Grillo und seine Protestbewegung "5 Sterne" votierten für Rodotà, der 217 Stimmen erhielt.
Grillo nannte die Wahl Napolitanos einen "Staatsstreich" und fordert, dass "Millionen von Bürgern" nach Rom fahren, um vor dem Parlamentspalast zu protestieren. Kurz darauf verzichtete er auf diese Forderung, nachdem er darauf hingewiesen wurde, dass schon Mussolini zu solchen Massenprotesten aufgerufen hatte.