Die Ergebnisse der ersten Wahlrunde in Ägypten stehen noch nicht endgültig fest. Doch gilt bereits als sicher, dass die Stichwahl zwischen Muhamed Morsi und Ahmed Shafiq stattfinden wird. Dies sind zwei Extreme: Einerseits der offizielle Kandidat der Muslimbrüder und anderseits der inoffizielle Kandidat der Militärs und Anhänger des alten Regimes.
Die Stichwahl droht damit zu einer gefährlichen Zerreissprobe für die ägyptische Gesellschaft zu werden. Sie ist angesetzt auf den 16. und 17. Juni.
Zwei sich kreuzende Gräben
Das bisherige Resultat zeigt, dass der Graben zwischen säkularen und muslimischen Gruppen tief ist. Er ist wohl der wichtigste aller Gräben. Doch kreuzt er sich mit einem anderen Graben, jenem zwischen Pro-Revolutionären einerseits und Anhängern des alten Regimes anderseits. Der Militärführung geht es darum, die unter dem alten Regime erworbenen Privilegien zu erhalten. Deshalb zählen die Militärs zur Gegenrevolution.
"Überreste" oder neue Personen?
Im Vorfeld dieser Wahlen waren die Aktivisten der wichtigen Revolutionsgruppe vom "26. April" ausgeschwärmt und versuchten allen Ägyptern nahe zu legen: "Stimmt für wen ihr wollt, nur nicht für die Felloul!". Felloul, "Überreste", ist das Wort, das die ägyptischen Revolutionäre für die Anhänger des alten Regimes gebrauchen. Ihr Wunsch ging zur Hälfte in Erfüllung. Morsi gehört nicht zu den "Felloul". Sein kommender Gegenspieler jedoch, Ex-General Ahmed Shafiq, einstiger Luftwaffenkommandant und Ministerpräsident der letzten Stunde unter Mubarak, sehr wohl.
Die Gemässigten überrundet
Der andere, liberalere der "Felloul", der einstige Aussenminister Mubaraks und spätere Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mouss, war chancenlos. Ebenso der liberalere Kandidaten der Islamanhänger, der früheren Muslimbruder vom linken Flügel der Bruderschaft, Dr. Abdel Moneim Abul Futouh.
Dies waren die beiden Kandidaten von Gewicht, auf den beiden Seiten des religiös-säkularen Grabens, die für gemässigtere und möglicherweise mehr sachbezogene Versionen der islamischen oder der säkularen Politik eingetreten waren.
Arabischer Sozialismus meldet sich zurück
Auf der säkularen Seite stand auch der zuvor eher unbekannte arabische Sozialist und Nasser-Anhänger Hamdin Sabbahi, der einen Überraschungserfolg der letzten Stunde erzielte. In Alexandria erhielt er mehr Stimmen als all seine Konkurrenten. In erster Linie wohl, weil er für die Arbeiter sprach, und in zweiter Linie, weil ihm die Stimmen vieler zufielen, die von den anderen Spitzenkandidaten enttäuscht sind.
Aufsplitterung der Gemässigten
Man kann das Ergebnis auch so zusammenfassen: Die beiden Extreme, der Muslimbruder und der Ex-General, waren erfolgreich, weil sich in den Zwischenbereichen die Stimmen allzu sehr aufsplitterten. Auf der Seite der Säkularisten gab es - wie schon in den Parlamentswahlen - viele kleine Parteien und dazu noch den zweiten Graben zwischen den Freunden und Feinden des alten Regimes.
Auf der Seite der Islamisten entstand die Spaltung zwischen dem offiziellen und nicht offiziellen Kandidaten der Muslimbrüder. Auch die Salafisten trugen zur Verzettelung der Stimmen bei. Ihr Wunschkandidat, der Prediger Hazem Abu Ismail, war wegen des amerikanischen Passes seiner Mutter von der Wahlkommission ausgeschlossen worden. Durch den Verlust dieses charismatischen Kandidaten sind die Salafisten führungs- und perspektivlos geworden.
Der offizielle Kandidat der Muslimbrüder, Morsi, erhielt nur etwa die Hälfte der Stimmen, welche in den Parlamentswahlen für die Muslimbrüder abgegeben worden waren. Der Ex-General erhielt seinerseits etwa die Hälfte der säkularen Stimmen, während die andere Hälfte sich in viele Strömungen aufspaltete. Dass Ahmed Shafiq dieses Resultat erreichen konnte, geht ohne Zweifel auf die Unzufriedenheit und die Enttäuschung vieler zurück, die entweder schon von vornherein Gegner der Revolution waren oder es wurden, weil die lange Periode seither, voll von Unsicherheit und sich verschlechternden Wirtschaftsbedingungen, sie abstiess.
Mehr Gegensätze auf Seiten der Säkularen
Wenn man schon heute eine Voraussage auf die kommende Stichwahl zu geben versucht, kommt man zu dem vorläufigen Schluss: Die muslimische Front hat bessere Chancen, zusammenzuhalten als die säkulare, weil sich auf der säkularen Seite die Spaltung zwischen Freunden und Feinden der Revolution auswirken wird. Sie ist von geringerer Bedeutung auf der muslimischen Seite, weil all ihre Angehörigen bei der Revolution mit dabei waren und alle von ihnen ein "anderes Ägypten" anstreben, als es jenes von Mubarak gewesen war.
Der Ex-Muslimbruder, Dr. Abul Futouh, hat seine Anhänger bereits aufgerufen, in der zweiten Runde für den Muslimbruder Morsi zu stimmen.
Diese Prognose könnte allerdings dadurch zunichte gemacht werden, dass die bis zur Stichwahl immer noch herrschende Macht, die Militärführung, einschreitet und das Wahlresultat in dieser letzten, für sie entscheidenden Phase doch noch in ihrem Sinne entstellt verfälscht.
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