Millionen Inder fieberten im soeben beendeten Cricket-Weltcup einem «Heimsieg» entgegen. Das Team gewann alle Spiele – bis es im Final stolperte. Dennoch ging es mit erhobenem Kopf vom Feld, was man seinem Landesverband nicht attestieren kann. Er degradierte den Anlass durch krude politische Vereinnahmung.
In der neuesten Ausgabe des «Global Happiness Index» stufen sich Inder auf dem 125. Rang von 150 Ländern ein. Diese trübe Selbsteinschätzung hätte kurzfristig wohl anders ausgesehen, wenn die Datenerhebung in den letzten sechs Wochen stattgefunden hätte. Eine Welle von Nationalstolz überschwemmte das Land, und auch das private Glücksgefühl schoss in die Höhe.
Pan-nationale Diversität
Der Grund war einfach zu erkennen. In Indien fand der Cricket-Weltcup statt, und das indische Team eilte von Sieg zu Sieg. Bis in den Final gewann es alle Spiele souverän. Schon zuvor hatte niemand daran gezweifelt, dass das Land zur Spitzengruppe der Cricket-verrückten Nationen gehört. Denn in den ehemaligen britischen Kolonien hat sich Cricket von einer Freizeitbeschäftigung mit Snob Appeal zu einem Volkssport entwickelt, der auch die Volksmassen erreicht.
Waren es früher noch ehemalige Maharadschas, die im weissen Flanell das kostbare Grün betraten, findet man im heutigen Nationalteam den Sohn eines Rikschawallahs, eines Hauswächters, oder eines Kleinbauern. Statt wie früher aus den Grossstädten kommen sie aus allen dunklen Ecken des Landes. Auch die Religionszugehörigkeit scheint nicht in die Selektion hinein zu pfuschen – zu wichtig ist auch den Hindu-Hardlinern der Ehrgeiz, ihr Land zum Besten der Welt zu machen.
Diese pan-nationale Diversität, bis vor Kurzem das stolze Markenzeichen des Landes, schien dem Team gut zu bekommen. Denn spielerisch war es wie aus einem Guss geformt. Der Team-Manager Rahul Dravid und der Captain Rohit Sharma fanden die richtige Mischung von Führungsstärke und Teamgeist, von individueller Brillanz, Aggression und taktischer Zurückhaltung. In den neun Gruppenspielen gab das Land keinen einzigen Punkt ab, und auch im Halbfinal siegte Team India souverän gegen Neuseeland.
Wunsch nach Sieg und Niederlage
Erst in diesem Augenblick wurde ich auf das Turnier aufmerksam, erstaunt über die Einmütigkeit der Kommentare, mit der sich das (sonst so streitlustige) Publikum hinter sein Land stellte. Die Zuversicht, im Endspiel als Sieger vom Feld zu gehen, war so gross, dass überall bereits Feierlichkeiten geplant waren. In den vier grossen Metropolen standen bereits die Triumphbögen für Siegesumzüge, und in einer Reihe von Bundesstaaten standen Komitees bereit, um ihren «Sohn» zu empfangen. In Hyderabad beklagten sich Bewohner über den Fluglärm –, bis sie erfuhren, dass er Flugübungen für eine Air-Show zur Feier des Weltcupsiegs geschuldet war.
Umso erstaunter war ich, als ich im Umkreis von Familie und Freunden, sowie in ausgewählten Sozialen Medien, immer mehr Stimmen hörte, die der eigenen Mannschaft zwar den Endsieg wünschten – und im gleichen Atemzug auch eine Niederlage. Was die allermeisten TV-Kanäle und Druckmedien mit vielsagendem Schweigen übergingen, so erfuhr ich, war die Tatsache, dass sich die Politik massiv in den Grossanlass einer Weltmeisterschaft eingeschaltet hatte.
Das war eigentlich zu erwarten gewesen. Denn warum sollte sich die Modi-Regierung ein so gewaltiges mediales Ereignis entgehen lassen? Hatte sie nicht in den letzten zehn Jahren Mal um Mal bewiesen, dass sie nicht davor zurückschreckt, staatliche Institutionen ihrem Machtwillen zu unterwerfen? Zudem wollte es der Zufall – oder vielleicht war es keiner – dass diese Weltmeisterschaft nur Monate vor der nächsten Parlamentswahl stattfinden würde.
Es ist wahr, dass die Cricket-WM vom «International Cricket Council» (ICC) durchgeführt wird, der sich aus allen Landesverbänden zusammensetzt. Inzwischen ist aber der BCCI – Indiens «Board of Control for Cricket in India» – der finanziell weitaus reichste Nationalverband. Der BCCI allein spült dank der Werbeeinnahmen seiner «Indian Premier League» und von Länderspielen jedes Jahr mehr Geld in die Kasse des ICC als alle anderen Verbände zusammen.
Modi, Modi, Modi
Nun ist der BCCI, früher von ehemaligen Cricket-Profis geführt, nicht mehr bereit, diese finanzielle Muskelkraft ruhen zu lassen. Denn inzwischen fungiert Raj Shah als BCCI-Präsident. Er ist der Sohn von Amit Shah, dem zweitmächtigsten Politiker des Landes. Shah zögerte nicht, den ICC zu zwingen, praktisch die ganze Organisation der WM dem BCCI zu überlassen.
Dies begann mit der Festsetzung des Spielplans, etwa der Durchführung von Indien-Spielen an Feiertagen, die in dieser Jahreszeit besonders dicht anfallen. Auch die Durchführungsorte waren sorgfältig gewählt worden. So wurde sowohl das Startspiel Indiens wie auch das Finale für das Stadion von Ahmedabad reserviert, der Hauptstadt von Modis Heimstaat Gujerat. Nicht nur dies – für das erste Spiel war ausgerechnet Pakistan auserkoren worden, Indiens islamischer Intimfeind und nirgends so gehasst wie im Grenzstaat Gujerat.
Es war ein kleines Detail, dass dieses Stadion auch den Namen von Narendra Modi trägt, was einem lebenden Politiker noch nie vergönnt war. Im Frühjahr drehte er mit dem australischen Premierminister eine Ehrenrunde, bevor ihm ein sofort gerahmtes Bild seines Auftritts überreicht wurde. Der Cricket-Historiker Ram Guha mokierte sich in einer Kolumne in der Londoner «Financial Times» darüber, indem er eine mögliche Schlagzeile entwarf: «Narendra Modi erhält im Narendra-Modi-Stadion eine Ehrenplakette mit einer Fotografie von Narendra Modi.» Keine Zeitung, so Guha später, habe den Mut gehabt, diesen «historischen Zufall» auf die erste Seite zu setzen.
Leere Ränge
Was die Medienkommentare auch nicht erwähnten, war die Tatsache, dass die Stadionsprecher und die ausgestrahlte Musik manchmal hindu-nationalistische Töne anschlugen. Im Eröffnungsspiel gegen Pakistan liessen sich sorgsam im grossen Rund des Stadions – es fasst 130’000 Zuschauer – verteilte Gruppenchöre zu anti-muslimischen Slogans hinreissen. Als ein pakistanischer Spieler nach einem misslungenen Ballfang vom Feld ging, wurde er von Fanchören mit «Jai Shri Ram»-Slogans begleitet, dem Kampfruf der Hindu-Nationalisten.
Dass es nicht zu Angriffen gegen pakistanische Fans kam, ist wohl darauf zurückzuführen, dass nur wenige anwesend waren. Vielleicht war es besser so. Ein einziger pakistanischer Fan wurde in Bangalore, bei einem Spiel seines Teams, von einem Polizisten zurechtgewiesen, als er eine gute pakistanische Spielszene bejubelte. Er schwenkte nicht einmal ein Fähnchen – die BCCI-Organisatoren hatten nur indische Papierfähnchen gedruckt.
Laut einem Bericht im Webportal «India Forum» hatten die Behörden zudem nur etwa 5000 Besucher-Visa ausgestellt – und dies bei einem internationalen Anlass, der sich gern mit der Fussball-WM vergleicht (Brasilien hatte beim FIFA-Weltcup eine halbe Million ausländische Fans ins Land gelassen). So liefen denn die Spiele, die nicht das Heimteam auf der Affiche hatten, vor praktisch leeren Rängen ab. Befreundete TV-Konsumenten erzählten mir, dass die indischen Kanäle bei der obligatorischen Direktübertragung der Spiele von zwei ausländischen Mannschaften oft Clips einbauten, die aus Indien-Spielen stammten.
Zwiespältiges Fazit
Auch der Premierminister selber konnte es offenbar nicht verdauen, dass «sein» Team das Finalspiel gegen Australien schliesslich verlor. Er war, in das Blau des Indien-Teams gekleidet, in «seinem» Stadion anwesend und musste natürlich den Siegespokal überreichen. Der grosse «Umarmer» war diesmal ganz «business as usual». Er überreichte dem australischen Captain den Pokal, wandte sich ab und verliess die Bühne. Der Captain stand etwas verloren da, bevor jemand Erbarmen zeigte und das Siegerteam auf die Bühne holte.
In seinem ersten grossen Auftritt mit globalem Echo – dem G-20-Gipfel – wurde Modi nicht müde, den Slogan auszugeben, laut dem «die ganze Welt eine Familie» ist. Die rabiate innenpolitische Vereinnahmung der Spiele zeigte einmal mehr, dass es nicht mehr als ein Slogan ist. Die Retourkutsche aus dem Ausland kam postwendend: «’ICC’ steht nicht für ‘International Cricket Council’», schrieb der Londoner Guardian, «sondern für ‘Indian Cricket Council’».
Selbst einzelnen BJP-Politikern ging dies zu weit. So schrieb etwa der frühere Cricket-Nationalspieler und heutige Parlamentarier Gautam Gambhir in seiner WM-Kolumne: «It is unthinkable that a society that gave the world the very thought of ‘The Whole World is a Family’ is sounding so parochial.» Indien gefährde damit lediglich eine erfolgreiche Kandidatur für die Olympischen Sommerspiele von 2036.
Gambhirs Fazit: «This has been the best of the cricket World Cups that India has hosted, thanks to the soaring performance of the Indian team. It has also been the most small-hearted and petty of the World Cups that India has hosted.»