Ägypten wird gegenwärtig von einer Gewaltwelle heimgesucht. Es ist schwerlich ein Zufall, dass dies in den Tagen geschieht, in denen sich die ägyptische Gegenrevolution, die von dem damaligen General und heutigen Präsidenten Abdul Fattah as-Sissi gesteuert wurde, zum zweiten Mal jährt. Jene, die der heutige Staat als Terroristen bezeichnet, ergriffen die Gelegenheit, um zu zeigen, dass man nach wie vor mit ihnen zu rechnen hat. Der Staat antwortet darauf, indem er seine Repressionsorgane weiter ausbaut und verschärft.
Der Staat Sissis macht keinen Unterschied zwischen den Muslimbrüdern und den echten Terroristen von IS. Dies schon seit zwei Jahren. Wenn er mit beiden Gruppen gleichermassen umgeht, führt dass auf mittlere Frist dazu, dass sie sich immer ähnlicher verhalten – und auf lange Frist dazu, dass sie gegen den Staat gemeinsame Sache machen.
Gewaltausbruch im Sinai
Die wirklichen Terroristen von IS haben am 30. Juni den Obersten Staatanwalt durch einen grossen Bombenanschlag ermordet. Am 1. Juli schritten sie zu einer der grössten Aktionen, die es je in dem umkämpften Wüstengebiet des Sinai kam. Sie zündeten morgens um vier Uhr eine Autobombe vor dem Gelände der Sicherheitskräfte in dem Flecken Scheich Zuweid, der in der Küstenebene südöstlich der Stadt al-Arisch liegt, und sie griffen gleichzeitig nach ihrer Darstellung 15 Wegsperren der ägyptischen Militärs an. Dabei seien drei Selbstmordattentate verübt worden. Die Bewohner berichteten, die Rebellen hätten eine Zeitlang die Ortschaft von Scheich Zuweid beherrscht und an den Zufahrtsstrassen dorthin Minen gelegt, um die Einfahrt der Lastwagen der Armee zu behindern. Die Bewohner behaupten, es gebe Strassensperren der Armee, aber auch solche der Rebellen in ihrer Stadt und in der Umgebung.
Die Armee setzte nach eigenen Aussagen Kampfflugzeuge und Helikopter ein, um gegen die Rebellen anzukämpfen. Am nächsten Tag erklärte die Armee, es herrsche völlige Ruhe in Scheich Zuweid, und die Streitkräfte seien nun wieder völlig Herr der Lage. Das Ameecommuniqué sprach von 17 gefallenen Soldaten und Offizieren und von über hundert getöteten Terroristen. Medizinische Quellen sprachen von 70 «Opfern» unter den Sicherheitskräften. Dabei blieb unklar, ob es sich um Todesopfer oder um Verletzte handelte. Die Armee erliess ein umfassendes Informationsverbot.
Angesichts der fragmentarischen Aussagen von Bewohnern der Ortschaft und zivilen Beobachtern, die sich auf den ersten Überraschungseffekt zu Beginn der Aktion bezogen, sind die offiziellen Zahlen der Armee wahrscheinlich eher zu tief gegriffen. Man kann auch vermuten, dass sich unter den angeblich hundert getöteten Aufständischen höchstwahrscheinlich einige oder viele unschuldige Zivilisten befanden. Die Armee veröffentlichte Luftaufnahmen, auf denen «Rebellen» zu sehen sind, die vor den Bobenflugzeugen fliehen.
Fest steht, es war der grösste Angriff auf die Streitkräfte seit dem Überfall vom Oktober des vergangenen Jahres, der 33 Soldaten das Leben kostete. Damals waren die Sicherheitsmassnahmen in der nördlichen Hälfte des Sinai verschärft worden. Der Notstand wurde ausgerufen, und ein nächtliches Ausgangsverbot wurde verhängt. Beide bleiben weiter in Kraft. Die Armee hatte erklärt, sie werde nun endgültig auf Sinai Ordnung schaffen. Doch kleinere Angriffe und Überfälle hatten unvermindert angedauert. Die wenigen kritischen Beobachter der Lage, die in Kairo zu Wort kommen können, sind der Ansicht, dass es in erster Linie das brutale Vorgehen der Streitkräfte gegen die Bewohner der Halbinsel sei, das den Aufstand beständig neu anfacht und dadurch am Leben erhält.
Polizeimord an 13 Muslimbrüdern?
Am 1. Oktober teilte die Bruderschaft über ihre digitale Veröffentlichung «Ikhwan net» mit, dass 13 ihrer Mitglieder in ihren Wohnungen gefangen genommen, in eine Wohnung in der Vorstadt Kairos, die 6.-Okober-Stadt heisst, verschleppt und dort erschossen worden seien. Sie nannten unter ihnen Abdel Fattah Mohammed Ibrahim, den Vorsitzenden des Komitees für Familienhilfe und Unterstützung der Märtyrerfamilien, sowie Nasser al-Hafi, den Chef ihres juristischen Komitees. Al-Hafi war als Parlamentarier in das später aufgelöste ägyptische Parlament gewählt worden. Die Polizei erklärte ihrerseits, sie habe die «bewaffneten» Terroristen in «ihrer Höhle» überfallen. Die Gegner hätten das Feuer eröffnet und seien deshalb erschossen worden.
Die Erklärung der Brüder führt aus, die Familienmitglieder der Erschossenen hätten ausgesagt, diese seien morgens in ihren Häusern von Bewaffneten festgenommen worden. Die Brüder publizierten auch Fotoaufnahmen der Leichen, auf denen die Einschüsse erkennbar sind sowie auch die geschwärzten Finger der Opfer. Die geschwärzten Finger seien dadurch zu erklären, dass ihren bei der Festnahme Fingerabdrücke genommen worden seien. Sie erklären auch, in der betreffenden Wohnung seien keine Einschüsse zu erkennen, wie das bei einem Schusswechsel der Fall gewesen wäre. Einschussspuren hätten nur die Leichen der Ermordeten aufgewiesen.
Die Mitteilung der Brüder verurteilt in ihren Anfangszeilen die Mordaktion von Sinai, doch sie schliesst mit einer Aufforderung an die ägyptische Bevölkerung: «Erhebt euch in Rebellion und verteidigt Euer Land, Euch selbst und Eure Kinder. Dieser Schlächter ist im Begriff, das grösste Massaker durchzuführen, das es je in Ägypten gegeben hat. Eliminiert seine usurpierte Autorität, zerstört die Zitadellen seiner Unterdrückung und gewinnt Ägypten zurück!» Dabei ist nicht mehr, wie es bisher die Norm gewesen war, von der Notwendigkeit die Rede, gewaltlos gegen die «usurpierte» Staatsmacht vorzugehen.
Verschärfte Sicherheitsgesetzte
Indessen beriet der Ministerrat über den Vorschlag, die Sicherheitsgesetze Ägyptens zu verschärfen. Dieser wurde vom Ministerrat verabschiedet und dem Staatsrat überwiesen. Er soll ihn endgültig prüfen und dann dem Präsidenten zur Unterschrift vorlegen. Man kennt seinen genauen Inhalt nicht. Doch verlautet, dass er die Strafen für Terrorismus erhöht, diesen Begriff noch weiter definiert als bisher, den Staatsanwälten und Richtern mehr Vollmachten gewährt, telephonische und digitale Kommunikationen abzuhören und Angeklagte gefangen zu halten, die Polizei ermächtigt, mit Gewalt gegen mögliche Terroristen vorzugehen, die Presse mit schweren Gefängnisstrafen bedroht, wenn sie Terroristen oder deren Ideologie befürwortet oder entschuldigt.