Ein kleines Dorf im Süden Frankreichs. Ein windiger Abend im Frühherbst. Der Geschichtsprofessor aus dem Norden, der eine Einheimische geheiratet hat und jedes Jahr ausgedehnte Ferienzeiten im Dorf verbringt, hat im Gemeindesaal zu einem Vortrag mit Gesang geladen – der Saal ist voll. In zwei Stunden will er aufzeigen, wie sich französische Geschichte seit den Zeiten der Commune, also seit 1871, im Chanson spiegelt und abbildet. Des Professors Vortrag holpert charmant-wurstig von Lied zu Lied. Monsieur sitzt am Klavier, kündigt Ohrenwürmer an. Die werden dann laut und derb in die Tasten gehauen und das Publikum fällt vom ersten Ton an in die Melodie ein, singt begeistert mit. Man kennt die Lieder; die Texte hat der fürsorgliche Professor verteilen lassen.
Die Verbindung von Geschichte und Chanson, wenn man sie so in einer animierten Kurzfassung vorgesetzt bekommt, fasziniert. Und es bleibt erstaunlich, wie vielfältig, wie genau die Klangbilder sich ausnehmen, die Realität und Kunst vereinen. Vom ersten, wunderschönen, melancholischen Chanson, „Le temps des cerises“, das in Frankreich wirklich jeder kennt und von dem es eine sensible Interpretation von Yves Montand gibt, weiss der Professor zu berichten, dass das Lied älter als die blutige Commune ist, die es in einer Strophe erwähnt: Volkslieder wie dieses können verändert, neu gedeutet werden. Ein Dichter hat den „temps des cerises“ einen Abgesang auf die Commune hinzugefügt und das Lied dabei nicht beschädigt sondern grösser, tiefer gemacht.
Arbeiter und Rebellen
Auch die „Internationale“ ist in Frankreich geboren. Sie gehört in den grossen Strauss von sozialistischen Chansons, von kämpferischen und poetischen Liedern, die den Arbeitern und jeder Art von Rebellen gewidmet sind. Es gibt sie bis heute. Der in den Neunzigerjahren sehr populäre Renaud zum Beispiel, eine Art Popstar des Chansons, hat sie gesungen und dazu seine eigenen, auf unsere Zeiten hin konzipierten Kampfgesänge in die Menge begeisterter Zuhörer geschmettert. Ueberhaupt haben die meisten der im 20. Jahrhundert berühmt gewordenen Chansonniers, Edith Piaf und Barbara, Georges Moustaki, Charles Aznavour, Gilbert Bécaud, um nur einige wenige zu nennen, in ihren Konzerten den zeitverbundenen und zeitkritischen Liedern Reverenz erwiesen, die Tradition gepflegt oder neu gedeutet, manchmal umgedeutet. Ein nettes, harmloses Liebeslied wie „Nathalie“ von Gilbert Bécaud, ein Hit in den Sechzigerjahren, thematisiert leichthin die russische Revolution von 1917 in einer Art von sentimentaler Replik auf so und so viele Chansons der Zeit um den Ersten Weltkrieg, die sich dramatisch und pathetisch mit dem gleichen Sujet beschäftigten.
Kriegs- und Antikriegsgesänge
Ja, die Kriegsgesänge! Wenn es etwas gibt, was schwer zu ertragen ist, in Frankreich, dann der allenthalben grassierende, gnadenlose Chauvinismus, der schon die „Marseillaise“ vergiftet und im Chanson der Kriegszeiten Furore machte. Da werden Soldaten glorifiziert, Feinde vernichtet, Ehre, Rum und Tod gefeiert. Ein paar politisch überaus unkorrekte, hemmungslos kolonialistisch und sexistisch grundierte Liedtexte stehen in Zusammenhang mit Frankreichs Eroberungen in Afrika und Asien. Im Saal wurden übrigens auch diese weniger bekannten Melodien aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fröhlich mitgeträllert, was den Herrn Professor vorne am Klavier doch zu ein paar schulmeisterlichen Erläuterungen inspirierte – man müsse schon wissen, was man da singe.
Zu den Kriegsgesängen gehören die Antikriegsgesänge und sie sind im Liedgut mindestens so stark, wenn nicht stärker vertreten als der Hurrapatriotismus. Und dann gibt es den einzigartigen Georges Brassens, der sich seinen eigenen ironischen, manchmal schon fast zynischen Reim auf das Meiste machte, was seine Kollegen besangen, priesen oder verachteten. Höhnisch lässt er in „La guerre de 14-18“ alle möglichen Kriege seit der Antike Revue passieren, um schliesslich den Ersten Weltkrieg zu besingen, der ihm der liebste sei. In einem seiner populärsten Chansons, der „Mauvaise réputation“ von 1952, erklärt er, dass ihn der 14. Juli nichts angehe und dass er ihn am liebsten im Bett verbringe.
Das eindrücklichste Antikriegslied stammt von Boris Vian, entstand 1954, zur Zeit des Algerienkriegs und heisst „Le déserteur“: ein schlichtes, klares, kompromissloses Chanson, von Vian selber vorgetragen. Es verkündet dem Präsident der Republik, dass der Autor und Sänger das Aufgebot zum Militärdienst missachten, dass er desertieren werde, egal, was passiere. In der Originalversion hatte Vian in den letzten Zeilen des Gedichts geschrieben, dass er eine Waffe besitze und sie zu benutzen wisse, falls ihn die Polizei verhaften wolle. In der veröffentlichten, zuerst verbotenen, dann frei gegebenen und zu einem Riesenerfolg gewordenen, abgewandelten Version heisst es: „prévenez vos gendarmes/que je n´aurai pas d´armes / et qu´ils pourront tirer“.
Bedeutungsverlust
Mag sein, dass das Chanson im Frankreich der Postmoderne, in Zeiten des „anything goes“-Prinzips, das jegliche Kunstübung heute beeinflusst, an Bedeutung verloren hat. Es wird undeutlich, mischt sich mit anderen musikalischen Tendenzen. Und trotzdem tauchen jedes Jahr ein paar neue, junge Chansonniers auf, die es versuchen, die an ihre älteren Kumpane und Vorbilder anknüpfen, die sich von den Liedern des Belgiers Jacques Brel inspirieren lassen, von Edith Piaf. Und dann gibt es noch die unsterbliche Juliette Gréco, fast 90 Jahre alt und immer noch auf Tour, singend vor vollen Sälen.-Im Gemeindesaal, im kleinen Dorf in Südfrankreich ist man ans Ende einer ebenso langen wie kurzweiligen Reise durch Zeiten und Lieder gelangt. Moustaki, Renaud, Adamo mit politischen Chansons sorgen für einen fulminanten Abschluss. Geschmeidige, offene Lieder; sie erlauben Blicke, die über das „Hexagone“ hinausgehen. Die Versöhnung mit Deutschland, Barbaras melancholisches „Göttingen“ beschliesst den Abend.